Die warme Nachmittagssonne im Nacken, geht der alte Georg Jansen Schritt für Schritt die Steinumrandung entlang. Sein gekerbtes Gesicht wird leicht von spätsommerlichem Wind gestreichelt. In diesem Moment wünscht er sich, es wäre Hilde's Hand, die ihm zärtlich über die Wange fährt und nicht nur warme, bedeutungslose Luft.
Er legt zum Abschied seines Besuches eine Rose auf das Grab. Dann küsst er den Grabstein.
„Mach's gut Liebes!", tätschelt er den Stein und wendet sich zum Gehen.
„Sie küssen sie ja noch immer."
Georg ist perplex, als die alte Dame plötzlich vor ihm steht, gleichzeitig fasziniert von ihrem Erscheinungsbild. Geblümter Stoff, der ihre Beine verhüllt, flattert leicht im Wind, genau wie ihre offenen grauen Haare, die weit über ihre Schultern reichen. Sie lächelt, als hätte sie soeben einen guten alten Freund getroffen, nicht etwa einen Fremden. Es schenkt ihrem Gesicht etwas Junggebliebenes, obwohl es genau wie das Seine von vielen Fältchen gezeichneten ist. Ihr Anblick holt aus weit entlegenen Teilen seiner Erinnerung eine Szenerie hervor:
Ein Festival 1969. Er hatte die Arme fest um Hilde geschlossen, den Blick zur Bühne gerichtet. Dort stand eine junge Künstlerin, deren braunes Haar ellenlang hinab hing, bis zu der Gitarre, auf der sie spielte. Und sie sang. Das Publikum, ein Meer aus Kerzenlichtern, bewegte sich langsam zur Melodie, die Georg nun, obwohl sie schon fast in Vergessenheit geraten war, anfängt im Kopf herumzuschwirren.
Beautiful People
You live in the same world as I do.
Er begibt sich zu der schönen Besucherin auf den Friedhofsweg. Sie verströmt einen lieblichen, süßen Duft. Blumig ist er, genau wie ihr Rock.
„Warum fragen Sie?", will er wissen.
„Ich frage nicht. Ich stelle fest."
„Sie sind auch öfter hier?"
„Manchmal. Ich besuche gerne eine gute, alte Freundin. Sie ist vor zwei Jahren gestorben."
„Das tut mir leid."
Sie nickt. „Ich habe Sie hier schon oft gesehen. Und jedes Mal haben Sie den Grabstein geküsst, bevor Sie gegangen sind."
„Das stimmt." Georg blickt sehnlich zu Hilde's Grab. Eigentlich würde er den Grabstein zum Abschied jedes Mal am liebsten umarmen. Sich ganz fest an ihn drücken. Einen Teil von ihr einfach mal wieder im Arm halten. Doch wie sähe das aus? Jetzt, wo er wusste, dass es scheinbar Leute gibt, die ihn beobachteten, war er ganz froh, diesen Wunsch bisher nicht in die Tat umgesetzt zu haben.
„Ich finde das unglaublich romantisch.", sagt die Frau zu seiner Rechten. "Immerhin ist es nun schon über ein Jahr her." Sie macht eine Kopfbewegung Richtung Grab und blickt auf die eingravierten Daten.
„Ja. Im März war's ein Jahr."
„Ich bin Edith." Sie hält ihm eine Hand mit weinrot lackierten Fingernägeln entgegen. Als er aufschaut, blickt er ihr in die Augen. Wenn man lange genug hineinsieht, kann man sicher das Meer rauschen hören, denkt er sich. Edith lächelt hinreißend, während das strahlende Wasserblau ihrer Augen ihn anklimpert. Das Lied von damals setzt wieder ein.
But somehow I never noticed
You before today
I'm ashamed to say.
Er sieht sich erneut mit Hilde vor der großen Bühne. Wie sie sich zur Musik wiegten und verliebte Blicke austauschten.
„Georg Jansen.", erwidert er nach kurzem Zögern und reicht ihr die Hand. Ihre Haut fühlt sich weich an. Warm. Insgeheim ist es ein angenehmes Gefühl sie zu berühren.
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Georg. Ohne Hilde.
ContoEine Kurzgeschichte über die große Liebe und ihren Tritt in den Hintern. Und über Beautiful people.