Kapitel 31

411 40 1
                                    

Und als ich ihm schließlich von dem Kalenderbild und den Bitten meiner Großeltern berichtete, klappte ihm sogar die Kinnlade hinunter. Von der Beherrschung, die er sonst zutage legte, war bei meinem letzten Satz keine Spur mehr.
Für einen Moment schien sogar er kurz nach Worten zu suchen. Pures Erstaunen lag auf seinen Gesichtszügen, zugleich meinte ich jedoch, einen Hauch Angst in seinen Augen zu entdecken. Von seinen Haaren tropfte ein wenig Wasser hinab.
"Es besteht wirklich kein Zweifel, dass der Ball tatsächlich Yasmin gehört hat?", hakte er nach und fuhr sich mit der flachen Hand über die Wangen.
"Nein, ich habe das Bild gesehen und ich könnte meine rechte Hand darauf verwetten, dass es derselbe ist", beteuerte ich und nickte bekräftigend.
Nachdenklich kniff Tristan die Augen zusammen. "Nun ist es also passiert und man weiß, dass wir den Mörder suchen. Und man möchte nicht, dass wir das weiterhin tun", fasste er zusammen. "Deine Großeltern haben recht: Niemand kann ein größeres Interesse daran haben, dass wir aufhören, als der Mörder selbst. Es sei denn, er hatte einen Komplizen. Vielleicht gab es ja auch mehrere Mörder, nichts ist ausgeschlossen."
Ich presste die Zähne aufeinander. Nun sollten eventuell auch noch mehrere Menschen meine Schwester umgebracht haben? Dann könnte man wirklich niemandem mehr vertrauen.
"Es ist natürlich schlecht, dass jemand uns so dazu bewegen möchte. Wir müssen wirklich vorsichtig sein." Entschlossenheit schwang in seiner Stimme mit. Mit dem Gedanken, alles auf sich beruhen zu lassen, spielte er nicht einmal. Jeder seiner Sätze klang selbstsicher und überzeugt. Seine Augen funkelten. "Aber immerhin wissen wir nun etwas!"
Erstaunt blickte ich ihn an. "Was denn?" Auf seinen Lippen bildete sich ein triumphierendes Lächeln und ein Grübchen tauchte auf seiner Wange auf. "Eine meiner wichtigsten Theorien hat sich bestätigt. Das Gerücht, dass wir den Mörder suchen, hat sich schnell herumgesprochen und auch derjenige selbst hat davon Wind bekommen. Das heißt, es muss jemand aus dem Dorf sein!"
Darüber hatte ich bis jetzt noch gar nicht nachgedacht. Aber es hörte sich logisch an. Nur jemand, der hier wohnte, konnte davon erfahren haben. "Somit hat das auch eine positive Seite. Wäre meine These nämlich irgendwie widerlegt worden, hätten wir wieder ganz von vorne anfangen müssen", meinte Tristan und zuckte mit den Schultern. "Wenn wir Glück haben, lässt sich der Kreis der Verdächtigen nach und nach verkleinern. Unter Umständen verrät sich der Mörder sogar selbst."
Ich hätte seine positive Haltung gegenüber dieser Warnung gerne vollständig geteilt, doch gleichzeitig rief ich mir immer wieder ins Gedächtnis, dass Vorsicht geboten war. "Das denke ich nicht", sagte ich. "Derjenige ist nicht dumm. Er hat damals keine Spuren hinterlassen und die Polizei hat so viel in Bewegung gesetzt, aber den Mörder trotzdem nicht finden können. Glaubst du wirklich, dass er so leichtsinnig ist und sich durch etwas verrät?"
"Das vielleicht nicht", stimmte Tristan mir zu. "Wir müssen einfach immer weitersuchen und es könnte ja sein, dass uns der Mörder selbst einen entscheidenden Hinweis auf sich gibt, ohne es selbst zu merken."
"Oder er stellt uns eine Falle", fügte ich hinzu.
"Das wäre auch möglich."
Wir schwiegen und ich ging Tristans Überlegungen noch einmal durch. Die Theorien stimmten, daran zweifelte ich nicht. Aber wie sich der Mörder verraten sollte, war mir schleierhaft. Vermutlich würde ich es erst verstehen, wenn es soweit war.
"Wir müssen ab jetzt auf jeden Fall noch besser aufpassen", sagte Tristan schließlich. "Nun können wir nämlich auch mit Sicherheit behaupten, dass der Mörder von dem Gerücht Wind bekommen hat und einiges in Bewegung setzen wird, um unentdeckt zu bleiben. Wozu er fähig ist, wissen wir ja."
Ich nickte. Es machte mir Sorgen, aber ich versuchte, es zu verbergen. Fast konnte ich die flehende Stimme meiner Großmutter noch hören und es zerriss mich beinahe erneut. Ihre Ängste waren auch meine. Und ich konnte ihnen nicht entkommen.
"Was hältst du davon, wenn wir noch einmal zu Merle fahren? Wir dürfen keine Zeit verlieren, um den Mörder so schnell wie möglich zu finden. Mit jedem Tag, den wir verlieren, könnte es gefährlicher für uns werden", sagte Tristan. Seine Stimme blieb ruhig, es klang wie eine Feststellung.
"Einverstanden", stimmte ich zu, obwohl mir wieder etwas unwohl wurde. Es wäre definitiv vernünftiger, keine weiteren Nachforschungen anzustellen, doch ich verdrängte den Gedanken ans Aufhören sofort wieder. Meine Entscheidung hatte ich bereits getroffen und auch nach gründlichem Überlegen würde ich sie nicht rückgängig machen.
So straffte ich die Schultern und setzte einen entspannten Gesichtsausdruck auf. Mir selbst Angst zu machen, würde sich nur kontraproduktiv auf all meine Handlungen auswirken. Und gerade in einer solchen Situation musste man doch versuchen, positiv zu denken, oder?
Ich folgte Tristan die Treppe hinunter. Zum Glück begegneten wir Uwe nicht. Wie hatte er wohl auf Volkers Aussage reagiert? Hatte er mit seinem Pflegesohn geredet, wie es auch meine Großeltern mit mir getan hatten?
Gemeinsam radelten wir zu Merles Haus und meine Aufregung stieg mit jedem Meter. Es war lange her, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Einerseits freute ich mich auf sie, andererseits musste ich daran denken, dass jemand aus dem Dorf meine Schwester umgebracht hatte. Wem konnte man hier tatsächlich noch vertrauen? Theoretisch kam jeder als Mörder in Frage.
Diese Erkenntnis ließ mein Herz schneller klopfen. Hatte ich dem Mörder vielleicht schon gegenüber gestanden und nichts von seiner Vergangenheit geahnt? Oder waren es sogar mehrere Leute, die meine Schwester getötet hatten?
Mit zögerlichen Schritten lief ich hinter Tristan her, nachdem wir Merles Haus erreicht hatten. Dass ich den Dorfbewohnern so viel Misstrauen entgegen brachte, störte mich selbst, da ich den meisten damit Unrecht tat.
Tristan klingelte und ich hielt mich etwas hinter ihm, als wolle ich mich verstecken. Das Blut rauschte in meinen Ohren und ich hatte unbewusst sämtliche Muskeln angespannt. Da hörte ich plötzlich Schritte.
Einen Moment später wurde die Tür geöffnet und wir standen Merle gegenüber. Ihre karottenroten Haare leuchteten mir entgegen und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Sie sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ihr drahtiger Körper steckte in einer ausgewaschenen Jeans, die ihr bestimmt zwei Nummern zu groß war und einem weißen Top mit bunten Blumenmustern.
Sie betrachtete mich einen Augenblick lang, als müsse sie überlegen, wer ich sei. Doch dann trat sie einen Schritt vor und schloss mich in die Arme. "Mensch, ist das lang her, Isabelle! Vor wie vielen Jahren haben wir uns das letzte Mal getroffen?"
"Ich weiß es nicht", gestand ich und drückte sie. An ihrer Kleidung haftete der Geruch von Waschmittel und frischem Brot.
Als sie sich wieder von mir löste, musterte sie mich von oben bis unten. "Du bist ziemlich gewachsen, jetzt sind wir gleich groß. Davor habe ich dich immer um ein paar Köpfe überragt." Das Schmunzeln ließ mehrere Fältchen um ihre grünen Augen herum entstehen. Dann wandte sie sich an Tristan. "Hallo Tristan. Kommt doch ins Haus."
Sie legte mir eine Hand auf den Rücken und ich ließ mich sanft von ihr hineinschieben. Nichts hatte sich verändert, seitdem ich vor ein paar Jahren hier gewesen war. Die Kommode im Flur war noch immer voll beladen und auf dem Esszimmertisch stapelten sich die Zeitungen.
"Wollt ihr etwas trinken? Wasser vielleicht?" Ohne unsere Antwort abzuwarten, eilte sie bereits in die Küche, um zwei Gläser und eine Karaffe Wasser zu holen.
Tristan sah sich neugierig um und ich fragte mich, ob er wohl nach Hinweisen für einen weiteren Verdacht suchte. Merle gehörte weder zu den Menschen, die stets Ordnung hielten, noch zu jenen, deren Haus im Chaos versank. Meistens stellte sie Dinge irgendwo ab und vergaß, sie anschließend wieder aufzuräumen. In der Ecke lagen ein paar Spielzeuge, die sie wahrscheinlich in den Kindergarten mitnahm, daneben mehrere Bücher, ganz oben ein Erziehungsratgeber.
Es dauerte nicht einmal eine Minute und Merle hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt und jedem etwas zu trinken eingeschenkt. "Und jetzt erzählt, weshalb ihr hier seid."
Ich nahm einen Schluck Wasser und überließ Tristan das Wort. Nachdem ich Volker neulich etwas zu viel berichtet hatte, wollte ich denselben Fehler kein zweites Mal machen.
"Eigentlich hatten wir vor, dich schon vorgestern zu besuchen, aber da warst du nicht zu Hause", begann Tristan.
Merle nickte. "Tut mir leid", meinte sie. "Ich bin für einen Tag zu einer Freundin gefahren und erst gestern wiedergekommen. Schließlich konnte ich ja nicht wissen, dass ihr mich besuchen wolltet."
"Nicht schlimm", winkte Tristan ab und holte tief Luft, doch Merle unterbrach ihn.
"Wie geht es deiner Mutter?", fragte sie mich, ohne auf Tristan zu achten. "Ist sie auch hier?"
"Nein. Und auch in den letzten Jahren habe ich es nicht geschafft, sie zu überreden. Sie hat sich geschworen, das Dorf nicht mehr zu betreten und ich glaube nicht, dass sie diesen Schwur jemals brechen wird", antwortete ich.
Merle seufzte. "Sie war schon immer so stur. Aber wahrscheinlich hat ihr das später zum Erfolg verholfen. Bevor sie ihr Ziel nicht erreicht hat, hat sie nicht locker gelassen. Man konnte sich die Zähne an ihr ausbeißen, sobald man versucht hat, sie von etwas zu überzeugen."
Davon könnte ich Lieder singen. Schließlich hatte ich sie ewig angebettelt, doch den Traum vom eigenen Haustier hatte sie mir nie erfüllt. Keine Wunschliste der Welt und kein Flehen hatten etwas an ihrer Meinung geändert.
"Wie war meine Mutter früher noch so?" Ich schaute Merle mit großen Augen an.
"Na ja, eigentlich hat sie jeder gemocht. Sie war sehr zuverlässig, hilfsbereit und konnte sich durchsetzen. Und nicht zuletzt war sie hübsch und hat den Jungs reihenweise den Kopf verdreht." Bei diesen Worten meinte ich, eine Spur Neid herauszuhören.
"Wem denn zum Beispiel?", erwiderte ich.
Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. "David."

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt