Kapitel 36

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Draußen war es still geworden. Nichts regte sich, kein Laut war zu hören. Auch das Rufen des Wintergeists war verstummt. Ob er die Suche nach ihr aufgegeben hatte? Sicher war sie sich nicht. Es war Elsa auch zu riskant nachzusehen, ob er fortgeflogen war. Sie wollte lieber noch einige zeit hier verharren. Dieses Gefühl einsam in einem Zimmer sitzend darauf zu warten, dass jemand außerhalb endlich wieder seiner Wege zog und sie zurückließ, rief alte Erinnerungen wieder in ihr Gedächtnis. Genau so hatte sie sich jahrelang ihrer kleinen Schwester gegenüber verhalten und nun bei Jack...
Erinnerungen vergangener Ereignisse überschwämmten den Kopf der jungen Königin, Momente aus alter Zeit zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Die Eiskönigin sah Augenblicke vor sich, die sie die letzten Jahre immer wieder verdrängt hatte, Ereignisse aus ihrer Kindheit und schließlich auch aus ihrer kurzen, aber erfüllten, Zeit als Königin von Arendelle.
So rief sich Elsa auch das eine Gespräch mit Anna ins Gedächtnis...
Es war ein entspannter Morgen gewesen, an dem die Königin ihrer kleinen Schwester mitgeteilt hatte, wie glücklich sie doch für sie und Kristoff war. Viele Minuten hatte sie sich zuvor die Schwärmereien der Prinzessin angehört. Daraufhin hatte sich Anna mit einer lebhaften Umarmung bedankt und den Wunsch geäußert, Elsa würde auch endlich den Richtigen finden. Elsa hatte lachen müssen. Sicher, sie hatte sich damals auch einen Partner an ihrer Seite gewünscht, doch als Königin war dies nicht so einfach.
Sie erinnerte sich noch exakt an die Frage, die Anna ihr dann gestellt hatte:
Wie soll denn dein Traummann sein?, hatte sie neugierig wissen wollen.
Es war an sich eine einfache Frage gewesen, doch deren Beantwortung war für Elsa umso schwieriger. Wie jedes Mädchen hatte sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht, wie ihr Traum von Mann sein sollte... Witzig sollte er sein, warmherzig und verständnisvoll. Er sollte Augen haben, in denen man sich verlieren konnte und starke, tröstende Arme. Das hatte sie damals geantwortet.
Als Elsa diese Eigenschaften wieder ins Gedächtnis gerufen wurden, bemerkte sie, wie erschreckend zutreffend all diese Merkmale auf die Personen waren, deren Schuld es war, dass sie nun hier saß. Bale und Jack waren diesen Beschreibungen so unglaublich ähnlich...
Der Wintergeist, der sie aufgemuntert hatte, wenn es ihr schlecht ging, sie zum Lachen brachte, wenn ihr eigentlich zum Weinen war, ihr stets zuhörte, ihr soviel mehr als nur ein wenig Mitgefühl gezeigt hatte und seine eisblauen Augen, in denen sich die junge Frau jedesmal aufs Neue verlor... Und doch war er nicht perfekt gewesen. Er hatte ihr seine Zuneigung nur vorgespielt, hatte sie zutiefst verletzt...
Bale hingegen war für sie da gewesen, als sie den, durch Jack verursachten, Schmerz verspürt hatte. Er war ihr Halt gewesen, als ihre Eltern starben, hatte ihr stets ein offenes Ohr geschenkt, verminderte ihr Leid mit seiner Anwesenheit, ließ sie es sogar vergessen, wenn sie an seinem breiten Brustkorb lehnte und und die Wärme der sanft streichenden Hände verspürte. Bale konnte der jungen Hüterin in jeder Situation ein Lächeln auf die Lippen zaubern und zog sie mit seinen golden leuchtenden Augen, die ihr tief in die Seele blicken konnten, jedesmal, wenn er sie ansah, in den Bann. Doch auch er, den sie über viele Jahre hinweg einen Freund genannt hatte, war nie wirklich einer gewesen. Im Gegenteil: Er hatte Elsa nur dazu benutzt, die Hüter des Lichts zu schwächen und die Menschen dieser Erde zu gefährden, indem er sie brach...
Sie kannte zwei Personen, die ihr unendlich viel bedeutet hatten und doch war sie wieder allein...

An jedem Fenster hielt er an, musterte die Räume dahinter und hielt Ausschau nach Elsas Schwester, doch sie war nirgendwo zu finden. Jack war bewusst geworden, dass sich die Hüterin schon seit Beginn ihres Aufenthalts am Nordpol nach ihrer alten Heimat gesehnt hatte und nun da sie verschwunden war, hielt er es für sehr vielversprechend, hier nach Hinweisen zu suchen. Mit Anna selbst wollte er aber erst sprechen, wenn er hier sonst keine Anhaltspunkte für Elsas Verbleib fand.
Aus den Gesprächen in der Stadt unterhalb des Schlosses war bis jetzt nichts Hilfreiches zu erfassen gewesen. Die Bürger Arendelles wussten selbst nicht, was ihrer jungen Königin geschehen war. Auch die Bediensteten des Schlosses und der Ehemann der Rothaarigen verloren darüber kein einziges Wort. Anna war seine letzte Hoffnung. Sie war es, die vielleicht noch mit Elsa in Kontakt stand, doch die junge Frau war nirgendwo aufzufinden.
Jack Frost suchte weiter alle Fenster des weiß gemauerten Schlosses ab, jedoch ohne Erfolg. Der Wintergeist rechnete nicht mehr damit, die junge Frau vor Beginn der Dämmerung noch anzutreffen. Er hatte doch bereits alles abgesucht. Wo sollte sie denn noch sein?
Jack beschloss also, bevor er endgültig zum Nordpol zurückkehren würde, in das Zimmer der Königin zu fliegen. Er wollte den Ort aufsuchen, in dem sich die schöne Frau über viele Jahre hinweg aufgehalten hatte, dorthin, wo alles für sie und Jack begonnen hatte...
Vorsichtig setzte er mit seinen Füßen auf dem Boden des Balkons auf. Um diese Jahreszeit konnte er nicht einfach überall feine Eiskristalle hinterlassen, erst recht nicht hier. Sie würden seine Anwesenheit verraten, auch wenn ihn hier im Schloss niemand sehen konnte.
Leise schreitend bewegte er sich auf das große Doppelfenster zu. Es war geschlossen und bereitete ihm somit etwas mehr Mühe, in Elsas Zimmer zu gelangen. Bevor er jedoch den Ort betreten wollte, an dem er das erste Mal mit der bezaubernden Königin hatte reden dürfen, lugte er durch das feine Glas, um zu erkennen, ob sich etwas darin verändert hatte. Aber tatsächlich sah dieser Raum noch genau so aus wie vor fünf Jahren...
Jack Frost ließ seinen Blick weiter über das Innere des Raumes schweifen.
Irgendwann blieb dieser an dem königlichen Schreibtisch hängen. Dort saß jemand, eine Frau. Das Zimmer war nicht leer, wie es sich der Wintergeist erhofft hatte. Nun müsste er umso achtsamer vorgehen. Wenn er das Zimmer betrat, durfte er nicht den geringsten Laut verursachen...
Er musterte die Frau eingehend. Sie war sehr jung, etwa so alt wie Elsa damals, als die Hüter sie zu sich holten, hatte rotbraune, kunstvoll gebundene Haare und trug ein schlichtes Kleid in den Farben des Sommers. Ihr Gesicht konnte der Weißhaarige nicht ganz sehen, nur seitlich. Jedoch kamen ihm die zarten Rundungen der Lippen und die niedliche Nasenform so unglaublich vertraut vor. Ihr Anblick erinnerte den jungen Hüter an Elsa. Auch sie hatte damals dort auf dem Stuhl an dem kunstvoll verzierten Schreibtisch gesessen und seine Blicke nicht bemerkt...
Die Frau vor ihm sah der Eiskönigin ähnlich... War das vielleicht Anna? Jack hatte sie zwar als kleines Kind oft in den Fluren des Schlosses spielen sehen, aber das war schon so lange her.
Der Wintergeist bemerkte das ruhige, regelmäßige Atmen der jungen Frau und erblickte ihre geschlossenen Augen. Sie schlief.
Zufrieden lächelnd öffnete er mit seinen dünnen Fingern einen Teil des Fensters und schwebte lautlos auf sie zu. Beim Näherkommen wich sein Lächeln jedoch immer mehr einer ihm anzusehenden Besorgnis. Ja, diese Frau schlief, doch auf ihrem Gesicht spiegelte sich tiefe Trauer wider und einige Tränen hatten sichtbare Spuren auf ihren blassen Wangen hinterlassen. Sie musste sich wohl in den Schlaf geweint haben.
Mit einem Kloß im Hals betrachtete er ihr Gesicht erneut. Sie sah Elsa so ähnlich, war ebenso schön...
Jack musste seinen Blick abwenden, konnte er das Leid dieser jungen Frau nicht mehr länger ertragen zu sehen. Es war Elsas Schwester, da war er sich nun sicher, doch dieses traurig verzerrte Gesicht erinnerte ihn an das, worüber er nicht mehr hatte nachdenken wollen. Hier in diesem Moment sah Anna so verletzt und gebrochen aus, wie die junge Eiskönigin seinetwegen.
Der Wintergeist bekam nun vor Augen geführt, wie gewaltig die Ausmaße seiner Taten waren. Er hatte Elsa zu den Hütern gebracht, sich in sie verliebt und sie schließlich zutiefst verletzt. Er hatte so viel Schaden mit all dem angerichtet, hatte nicht nur sich selbst, sondern auch diese zwei wunderschönen Frauen gebrochen...
All der Schmerz, den Jack über die letzten Wochen und Monate versucht hatte zu verdrängen, kam nun wieder an ihn heran. Erneut fühlte er sich schwach und nutzlos, unbrauchbar für alle Lebewesen dieser Welt, sogar gefährlich.
Jack... Lass das nicht zu! Bleib stark, für Elsa.Finde sie und erklär ihr alles. Du musst sie wieder aufbauen, ihr Kraft geben! Ignoriere deinen Schmerz, er wird dir nicht helfen, sie zu finden., rief ihn sein Verstand innerlich zur Vernunft.
Zitternd ballte er seine Hände zu Fäusten.
Keine Schwäche! Nicht jetzt...
Es dauerte einige Augenblicke, bis sich der junge Hüter wieder vollkommen unter Kontrolle hatte, dann legte er seinen Blick erneut auf die Schwester der Eiskönigin. Immer noch schlief sie mit diesem Ausdruck auf ihrem Gesicht... Doch warum war sie überhaupt hier? Was hatte sie dazu gebracht, sich in das Zimmer ihrer verschwundenen Schwester zu setzen?
Jack ließ seinen Blick von ihr weg, hin zu dem Tisch vor ihr schweifen. Er war nicht vollkommen leer, so wie es der Hüter des Lachens erwartet hatte. Auf ihm stand ein Tintenfass mit einer Schreibfeder darin und daneben lagen einige unbeschriebene Papiere, doch warum?
Bei weiterer Betrachtung entdeckte er einen aufgerissenen Umschlag, der keinen Brief mehr enthielt.
Jack lief nun um die Schlafende herum und wollte gerade diesen ergreifen, als er auf etwas trat. Der Weißhaarige schaute herunter zu seinem Fuß und erkannte, dass dieser auf einem beschriebenen Papier stand. War das der Inhalt des Umschlags, der Grund, warum Anna hier war? Jack Frost vermutete, dass sie ihn wohl im Schlaf aus ihrer Hand verloren haben musste.
Immer noch auf Lautlosigkeit bedacht bückte sich der junge Hüter und ergriff das Papier mit seinen Händen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 09, 2016 ⏰

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