Kapitel 32

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Triumphierend schaute Tristan mich an. Davids Liebe zu meiner Mutter war ein starkes Motiv und Merle hatte es soeben bestätigt. Nicht nur der Liebesbrief war ein eindeutiges Indiz dafür, wie sehr David in sie verliebt gewesen war, nun wussten wir es auch von jemandem, der den beiden sehr nahe gestanden und alles miterlebt hatte.
"Was war mit meiner Mutter? Hat sie ihn auch geliebt?", entgegnete ich und betete inständig, dass sie es nicht getan hatte.
"Ich habe mich eigentlich nie für solche Themen interessiert", antwortete Merle und fuhr sich durch die kurzen Haare. "Sie mochten sich gerne, aber mehr habe ich nicht bemerkt. In Liebesangelegenheiten habe ich mich nie eingemischt. Aber Pauline müsste es wissen, schließlich ist sie Davids Schwester und hat sehr viel mit Yvonne und ihm unternommen."
Erleichterung durchflutete mich. Normalerweise merkte man es schnell, wenn sich zwei Leute liebten und meine Mutter stellte wahrscheinlich keine Ausnahme dar. Deshalb konnte ich nun getrost davon ausgehen, dass sie Davids Gefühle nicht erwidert hatte.
Tristan hingegen stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Er schien fest von einer Beziehung ausgegangen zu sein. Im nächsten Moment hingegen hatte er seine Mimik wieder unter Kontrolle.
"Du hast gesagt, dass Yvonne noch mehr Männern den Kopf verdreht hätte. Wem denn zum Beispiel?", fragte Tristan und klang dabei beinahe beiläufig.
Merle lachte und automatisch musste ich lächeln. Sie besaß ein leises, glucksendes Lachen, das jedem sofort sympathisch war. "Vielen. Eigentlich jedem der mit ihr zu tun hatte. Auf Männer hat sie wie ein Magnet gewirkt."
Ich beobachtete Merles Mimik genau. Bei dem letzten Satz sanken ihre Mundwinkel wieder etwas nach unten und das Funkeln in ihren Augen verblasste. Sie schluckte und ich dachte daran, was David mir über sie erzählt hatte.
Damals hatte sie meistens im Schatten meiner Mutter gestanden und ich konnte gut verstehen, dass sie neidisch darauf gewesen war, dass Mama alles scheinbar mühelos gelungen war. Bestimmt war es ein scheußliches Gefühl.
"Verübeln konnte ich es den Jungs nicht und auch Yvonne hat die Tatsache, dass ihr praktisch jeder zu Füßen lag, kaum beachtet. Sie war nie überheblich und hat sich nicht in den Mittelpunkt gedrängt. Wir haben uns damals alle gewundert, dass sie selbst nach dem Abitur keinen Freund hatte. Zumindest wusste ich nichts davon", sagte Merle mit ruhiger Stimme und schaute auf ihre Hände. Das Thema schien ihr nicht angenehm zu sein, was ich durchaus verstand.
"Die Mädchen waren bestimmt eifersüchtig auf sie", stellte Tristan fest.
"Schon", erwiderte Merle und zuckte mit den schmalen Schultern. "Wenn man neben ihr stand, war man für den Gegenüber praktisch Luft. Yvonne hat automatisch jeden Blick auf sich gezogen und man hat sich wie eine graue Maus gefühlt. Bis heute habe ich keine Ahnung, was sie an sich hat, das sie so attraktiv macht.
Natürlich ist sie hübsch, aber reicht das aus?"
Dabei blickte sie mich an und ich rutschte nervös auf dem Stuhl herum. Darauf konnte ich ihr keine Antwort geben.
"Vielleicht an ihrer Ausstrahlung?", erwiderte Tristan stattdessen.
"Möglich", nickte Merle und stützte den Kopf in die Hand. "Carmen und mir war es immer ein Rätsel."
Automatisch dachte ich an Carmen. Sie entsprach nicht unbedingt dem typischen Schönheitsideal, war eher üppig gebaut, mit einem fülligen Gesicht und kleinen, wachsamen Äuglein. Mit ihr verband man automatisch die gutmütige Bäuerin und Mutter. Allerdings gehörte sie zu den selbstbewusstesten Frauen, denen ich je begegnet war. Und gerade deshalb wunderte es mich, dass man von ihr weniger Notiz genommen haben sollte. Schließlich strotzte Mama nicht unbedingt vor Selbstbewusstsein.
Es war, als hätte Merle meine Gedanken gelesen. "Vor dem Tod deines Vaters und deiner Schwester war deine Mutter ganz anders. Nicht so zurückhaltend und nachdenklich. Meistens hat sie impulsiv gehandelt und es danach nicht bereut. Aber nachdem das alles passiert ist, war sie plötzlich wie ausgetauscht. Die alte Yvonne war einfach weg."
Ich spürte, wie meine Augen etwas feucht wurden. Der Tod der beiden hatte meine ganze Familie verändert und bis heute geprägt. Kein Tag verging, an dem ich nicht daran dachte. Vor allem wenn Mama müde und gereizt von der Arbeit zurückkehrte, versank sie nachts in den Erinnerungen an die beiden. Mehrmals hatte sie bereits im Wohnzimmer gesessen, vor sich ein altes Foto und leise geweint. In diesen Momenten fühlte ich mich hilflos, weil ich ihr nichts Aufmunterndes sagen konnte. Yasmin hatte ich nie kennengelernt und Papa existierte nur schemenhaft in meinem Gedächtnis.
"Es kann ihr wirklich niemand verdenken", meinte Merle leise. "Niemand hat so etwas verdient und vor allem nicht Yvonne."
Unauffällig versuchte ich, die Tränen wegzublinzeln. Vor Tristan und Merle wollte ich nicht weinen, doch auch die Freundin meiner Mutter war zutiefst betroffen. Ihr Gesicht war blass geworden und ihre Augen glänzten verdächtig.
In meinem Hals bildete sich ein Kloß und ich fühlte mich, als lägen mir Steine im Magen. Meine Hände hatte ich zu Fäusten geballt und sie unter meine Oberschenkel geschoben, sodass niemand sie sehen konnte.
"Eigentlich war Yvonne immer eine starke Persönlichkeit. Bis zu dem Zeitpunkt, als deine Schwester verschwunden ist. Was gibt es Schlimmeres für eine Mutter? Die Zeit, in der wir alle nicht wussten, was genau geschehen ist, und nur auf Neuigkeiten gewartet haben, hat sich endlos hingezogen und das ganze Dorf hat mit deiner Familie gelitten. Deine Geburt war ein kleiner Lichtblick für uns und hat vor allem Yvonne wieder Kraft geschenkt."
Merle schaute mich an und die Rührung, die mich überkam, trieb mir weitere Tränen in die Augen. Eigentlich hatte ich meine Geburt eher als unwichtig empfunden, schließlich hatte sich jeder um Yasmin gesorgt.
"Wir haben versucht, deiner Familie so viel Halt wie möglich zu geben. Jede erfolglose Suchaktion muss für deine Eltern wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Ich habe damals gedacht, dass alles besser wird, sobald man Yasmin aufgespürt hat", fuhr Merle fort und schluckte. "Aber als man ihren Leichnam im April gefunden hat, wurde alles nur noch schlimmer."
Nun löste sich eine Träne aus meinem Augenwinkel, aber ich wischte sie nicht weg. Tristan, der schräg gegenüber von mir saß, streckte einen Arm nach mir aus und ich ließ es zu, dass er meine Hand nahm und drückte. Es tröstete mich etwas und ich senkte den Blick.
Die Geschichte, wie man meine Schwester gefunden hatte, hatte mir niemand erzählt. Vielleicht mochte es eine Erleichterung gewesen sein, da man nicht mehr in der Ungewissheit leben musste, ob die eigene Tochter noch lebte. Aber das Gefühl, sie endgültig zu verlieren und Gewissheit über ihren Tod zu haben, war unbeschreiblich. Kein Schmerz der Welt konnte stärker sein.
Als ich vor ein paar Jahren die Zeitungsartikel über den Fund meiner Schwester gelesen hatte, hatte ich tagelang kaum mit jemandem geredet. Die Bilder in meinem Kopf hatten jegliche Empfindungen verdrängt und die Sätze hatten Löcher in meine Seele gebrannt. Die Sachlichkeit, in der berichtet worden war, dass man nach über sechs Monaten zufällig auf die Leiche gestoßen war, hatte besonders geschmerzt. Als wäre Yasmin nur ein Gegenstand gewesen, den man entdeckt hatte. Sogar ein Interview mit dem Bauer, der ihre sterblichen Überreste gefunden hatte, hatte man abgedruckt. Mir war es erschienen, als wolle man jede einzelne Wunde, die Yasmins Verschwinden verursacht hatte, aufreißen und auf jedem Fakt so lange herumhacken, bis es mich vollkommen zermürbt hatte.
Schlimm genug, dass die Leiche meiner Schwester ausgerechnet in einem Misthaufen nur eine halbe Stunde von hier entfernt gelegen hatte. Der Mörder hatte wohl damit ausdrücken wollen, was er tatsächlich von meiner Familie hielt. Zumindest hatte es so ähnlich in der Bild-Zeitung gestanden, die ich seitdem nie wieder angeschaut hatte.
Die Obduktion hatte ergeben, dass Yasmin schon länger dort gelegen haben musste und man konnte nur mit Mühe feststellen, dass sie erwürgt worden war. Ich sträubte mich dagegen, mir auch nur vorzustellen, wie die Leiche ausgesehen hatte.
Merle reichte mir ein Taschentuch und trocknete sich selbst die Augen. Ein kaum hörbares Schluchzen entwich mir und ich presste die freie Hand vor den Mund. Sie hatte recht: Niemand verdiente ein solches Schicksal.
"Entschuldigt, ihr beiden. So weit wollte ich gar nicht abschweifen", sagte Merle und putzte sich die Nase.
Tristan sah ebenfalls betroffen aus und starrte auf die Tischplatte. Ein paar blonde Haarsträhne hingen ihm ins Gesicht und seine Hand fühlte sich kalt an. Er kannte die ganze Geschichte bestimmt noch detaillierter als ich, aber so genau wollte ich nicht über den Yasmins Fund Bescheid wissen.
Mit der Beerdigung hatten meine Eltern endgültig von ihr Abschied genommen. Auf dem Grabstein stand der errechnete Todestag, der auf den engen Zeitraum nach ihrem Verschwinden datiert war. Das Datum der Entdeckung ihrer Leiche war jedoch das, das auch bei der Gedenkstätte am Lavendelfeld vermerkt war. An diesem Tag war die Hoffnung meiner Familie gestorben.
"Ich erinnere mich noch genau daran, als man mir davon erzählt hat, dass man nun Gewissheit über Yasmins Tod hat", begann Merle.
"Bitte, ich will das nicht noch einmal hören", brachte ich heraus und warf ihr einen flehenden Blick zu.
"Natürlich, tut mir leid, Isa", entschuldigte sie sich erneut und fuhr sich durch die kurzen Haare. "Jedenfalls war Yvonne danach nicht mehr sie selbst. Sie hat kaum mehr mit jemandem geredet, nur mit Bernd. Aber anscheinend konnte er auch nicht viel bewirken, denn Yvonne hat sich immer mehr gegenüber anderen Menschen verschlossen. An einigen Tagen hat man sie gar nicht mehr gesehen, als hätte sie sich von allen isoliert. Das war auch die Zeit, in der Christel und ich oft auf dich aufgepasst haben. Aber deine Mutter hat sich zunehmend zur Einzelgängerin entwickelt, nicht einmal dein Vater konnte richtig zu ihr vordringen."
Ich biss mir auf die Unterlippe. Vermutlich hätte ich ähnlich reagiert um den Schmerz verarbeiten zu können. Die Beschreibung meiner Mutter traf auf die Tage zu, wenn sie von der Vergangenheit eingeholt wurde.
"Aber immerhin hat sie durchgehalten", fügte Merle hinzu und ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten. Ihre Worte klangen beinahe wie ein Vorwurf.
"Gab es auch jemanden, der Isabelles Familie kaum unterstützt hat?", fragte Tristan und ich war ihm dankbar dafür, dass er Merle in eine etwas andere Richtung dirigierte.
"Eigentlich nicht. Jeder hat sein Bestes getan, um so viel wie möglich zu helfen. Yasmins Verschwinden und schließlich ihr Tod hat alle enger zusammengeschweißt", antwortete Merle.
Ich entzog Tristan meine Hand und fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen. Hätte ich geahnt, dass sich das Gespräch so sehr um Yasmin drehen würde, hätte ich Tristan wahrscheinlich nicht begleitet.
"Eigentlich wollte ich eine nette Unterhaltung mit euch führen", seufzte Merle und stützte den Kopf in die Hände. "Manchmal werde ich einfach zu sentimental. Besonders wenn es um Yvonne und Yasmin geht. Ich war immer gut mit Yvonne befreundet und der Mord hat unserer Freundschaft ein Ende gesetzt.
Nicht, weil wir uns gestritten haben, sondern da Yvonne sich mehr und mehr abgeschirmt hat. Dagegen war ich natürlich machtlos und nachdem ihr weggezogen seid, habe ich sie kaum noch zu Gesicht bekommen. Aber sie hat es wahrscheinlich nicht mehr ertragen, dort zu leben, wo so viele schlimme Sachen passiert sind."
Ich nickte. Bis heute verfluchte meine Mutter das Dorf und war der Meinung, dass es ihr Unglück gebracht hatte. Deshalb hatte sie sich geschworen, es nie wieder zu betreten. Keine zehn Pferde könnten sie auch nur einen Zentimeter hinter das Ortschild bewegen.
Mein Kopf fühlte sich hohl an, ein Vorbote von Kopfschmerzen. Die ganze Geschichte würde ich erst noch verdauen müssen. "Es war trotzdem schön, dich wiederzusehen, auch wenn wir über erfreulichere Dinge hätten sprechen können", erwiderte ich so.
"Das stimmt. Seid ihr am Samstag beim Dorffest dabei?", fragte Merle uns.
"Selbstverständlich", nickte ich und erhob mich. Nach einem solchen Gespräch brauchte ich nun unbedingt etwas Ruhe, um alles reflektieren und verinnerlichen zu können. Tristan hatte hoffentlich alle Antworten bekommen.
Ich fühlte mich niedergeschlagen und kraftlos. Und dieses Gefühl war nur ein Bruchteil dessen, was meine Familie damals hatte ertragen müssen.

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