Old Toys

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Thunder only happens when it's raining
Players only love you when they're playing
('Dreams' - Bastille)

Marios Sicht:

„Ja.", sagte sie dann nickend. „Vertraut und schön." Nachdem sie meine Worte wortwörtlich wiederholt hatte, konnte ich den riesen Schritt nach vorne, den wir damit machten, fast physisch spüren.

Ganz kurz meinte ich etwas wie Angst über ihr Gesicht huschen zu sehen. Ein kleiner Schatten, das passierte öfters bei ihr.
Schon befürchtete ich, dass sie ihre Worte wieder zurücknehmen würde, oder dass sie ein großes Aber hinzufügen würde, doch sie tat es nicht. Vor lauter Erleichterung lächelte ich breit und mein Lächeln wurde noch größer, als ich sah, dass sie dieses Lächeln erwiderte.

Vertraut.

Ja, das war definitiv das richtige Wort, um dieses Gefühl zu beschreiben.

Aber wie ging es weiter, jetzt, wo wir diese wacklige Schwelle, die jederzeit hätte einstürzen und verschwinden können, überquert hatten? Denn das hatten wir hiermit ganz bestimmt getan.
Hieß das wir waren wieder Freunde? Aber wer durfte das überhaupt definieren, vielleicht war Bella ja ganz anderer Meinung und ich wusste es bloß nicht...?

Plötzlich dachte ich an unseren ersten Schultag, an dem ich mich zu ihr gesetzt und ihr meinen Lolli geschenkt hatte. Ich hatte das kleine Mädchen gesehen und sie ausgesucht. Oder vielleicht hatte eigentlich sie mich ausgesucht, da war ich mir nie so sicher gewesen. Ich hatte entschieden, dass sie das netteste Mädchen der ganzen Grundschule war (oder sagen wir mal: Das einzige Mädchen, das ich mit meinen sechs Jahren mochte). Und sie hatte entschieden, dass ich der coolste Junge der ganzen Grundschule war. So einfach war es gewesen. Freunde von Tag eins an. Aber so leicht ging das diesmal natürlich nicht. Leider.

Ich sah Bella fragend an. Dieses Mal lag es ganz bei ihr zu entscheiden. Ich war derjenige, der unsere Freundschaft zerstört und dann um eine zweite Chance gebeten hatte. Sie war diejenige, die über die wacklige Schwelle bestimmen durfte, die sie einstürzen lassen konnte, wenn sie wollte.

Bella strich sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr. Sah überallhin, außer zu mir. „Ähm...", fing sie an, stockte dann aber.
„Möchtest du ein bisschen länger  bleiben und mit mir einen Film anschauen?", fiel ich ihr dann ins Wort und hoffte, dass sie den Zusammenhang erkannte.

Früher, wenn wir als Freunde einen heftigen Streit gehabt hatten (was einige Male vorgekommen war), da war so lange Funkstille gewesen, bis einer von uns es nicht mehr ausgehalten hatte und bei dem Anderen mit einer Tüte Chips in der Hand klingelte. Dann hatte der Andere einen reingelassen und wir hatten uns zusammen vorm Fernseher oder vorm Laptop gesetzt und eine DVD eingelegt (bei der Frage welche DVD, war es oft dann fast zu einem neuen Streit gekommen).
Sobald der Film endete, hatten wir Popcorn gemacht, weil die Chips natürlich schon längst leer gewesen waren und als wir erneut eine DVD einlegten, war alles wieder gut gewesen. Manchmal hatten wir dann später über unseren Streit geredet, manchmal auch nicht. Aber wir waren einfach weiter beste Freunde gewesen.

Bella hatte wieder ein Lächeln aufgelegt. Sie hatte meine Anspielung verstanden.

„Okay, wieso nicht? Ich würde gerne mit dir einen Film sehen."

Oh ja, sie hatte definitiv verstanden.

Ich wollte ihr gerne sagen, wie dankbar ich ihr dafür war, dass wir jetzt wirklich an unserer Freundschaft weiterarbeiten konnten. Stattdessen fragte ich aber nur: „Popcorn?" Und sie sagte: „Popcorn!"

Ich zeigte Bella, wo sie all meine Filme finden konnte und ging in die Küche, um unser Popcorn zu zubereiten. Bella hatte ihr Popcorn mit Salz und Butter, anstatt mit Zucker gemocht. Deswegen waren wir früher immer in das gleiche Kino gegangen, weil es nur dort auch salziges Popcorn zu kaufen gab. Verrückt an welche Kleinigkeiten ich mich erinnerte...

Als ich mit dem fertigen Popcorn zurück ins Wohnzimmer kam, saß Bella schon an einer Ecke des Sofas und winkte mir mit einer DVD in der Hand zu. „Ich kann nicht fassen, dass du den noch hast." Es war Shrek. Unser Lieblingsfilm, als wir noch Kinder gewesen waren.
Wir hatten ihn schon hundertmal zusammen angeschaut. Es war genau der richtige Film.

Ich holte zwei Decken und legte Bella eine hin. Sie lächelte mich dankbar an, dann kuschelte sie sich mit der Decke aufs Sofa. Irgendwie musste ich bei dem Anblick lächeln.

Mein Lächeln verschwand auch während des ganzen Films nicht.

Bella kannte immer noch einige Szenen auswendig und flüsterte die Sätze des Esels ganz leise mit.
So wie früher.
Ich fragte mich, ob sie wusste, dass ich sie beobachtete und ob sie das absichtlich tat. Sie hatte gesagt, sie wäre nicht mehr die alte Isabella. Doch gerade wirkte sie ganz genau wie damals. Sie hatte gesagt, wir könnten nicht mehr so werden wie früher. Sie hatte gesagt, wenn wir jetzt Freunde werden sollten, dann nicht den alten Zeiten wegen.
Aber wieso entschied sie sich dann für einen alten Film, aß das salzige Popcorn, das  ich ihr gemacht hatte und lachte immer noch bei denselben Stellen?

Es war ja nicht so, dass ich nicht einige Dinge bei ihr bemerkt hatte, die anders waren. Bis jetzt hatte sie bei all unseren Begegnungen stets einen Zopf getragen, früher hatte sie Zöpfe gehasst.
Ich würde sie gerne fragen, warum sie ihre Meinung darüber geändert hatte, doch vielleicht ging ihr das ja zu weit. Auch lächelte sie seltener als früher, überhaupt wirkte sie viel ernster und viele Lächeln erreichten ihre Augen nichtmal. Sie sah oft so unglaublich müde aus. Ausgelaugt.

Wie in einem Buch in ihr lesen konnte ich offensichtlicherweise auch nicht mehr.

Ich würde gerne wieder wissen können, was in ihr vorging. Bella war schon immer ein interessanter Mensch gewesen. Irgendwie geheimnisvoll. Nur, dass ich damals in fast all ihrer Geheimnisse eingeweiht gewesen war.

~

Als der Film zu ende ging, schaltete ich den Fernseher aus. „Isabella?"
Sie drehte den Kopf zu mir. „Ja?" - „Was ist so schlecht daran, wenn wir versuchen zu sein wie früher? Was ist verkehrt daran, wenn wir unsere Freundschaft nach der Vergangenheit aufbauen?" Sie sah zu der Shrek-DVD, dann zu dem Popcorn. Sie schluckte.

„Du hast doch gesagt, dass dieses vertraute Gefühl schön ist, oder?", hakte ich schnell nochmal nach.
„Das ist es auch." Bella sah mich nicht an, als sie weitersprach. „Aber es ist nicht echt, Mario."

Irgendwie machte mich ihre Antwort wütend. „Wieso? Wieso zum Teufel entscheidest du dich dann für Shrek und sprichst mit?" Sie seufzte schwer. „Weil es schön ist sich wie früher zu fühlen, Mario. Manchmal braucht man das einfach. Manche Menschen machen dann halt einen Disney-Tag, um sich wieder wie ein Kind zu fühlen, andere packen alte Spielzeuge oder Fotoalben heraus. Und du und ich, naja, wir treffen uns halt." - „Und was ist so falsch daran?" Ich verstand sie einfach nicht.
„Wir sind keine Kinder mehr, es ist Vergangenheit. Leute benutzen die Vergangenheit, um vor dem Jetzt zu flüchten, um eine Auszeit von dem zu nehmen, was sie gerade plagt. Und das ist auch okay, für einige Zeit jedenfalls. Irgendwann müssen wir die Sachen wieder in die Schublade stecken, ganz hinten, dort, wo sie eigentlich hingehören."

Endlich sah sie mich an, aber ihr Blick war wieder so unglaublich traurig und müde.
Warum war sie nur so traurig? Vor welchem Jetzt versuchte sie zu entfliehen?

Ich sprach es nicht laut aus, aber sie hatte irgendwie Recht. Wir benutzten uns gerade gegenseitig. Wir waren wie alte geliebte Spielzeuge füreinander. Das war die nüchterne Wahrheit, die Isabella gerade ausgesprochen hatte. Ich konnte es nicht abstreiten, auch wenn ich es gern getan hätte.
Der Gedanke, dass ich sie früher oder später wieder hinten in eine Schublade stecken müsste, gefiel mir ganz und gar nicht. Es machte mich wehmütig und traurig. Aber so war es mit alten Spielzeugen ja auch...oder?

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Hallo :)
Wahrscheinlich denkt ihr jetzt, es geht in die falsche Richtung, aber ich kann euch beruhigen, denn vielleicht bringt es sie ja auch näher...? ;)

Maybe tomorrow (Mario Götze)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt