suicide

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Wie ein Häufchen Elend saß sie hier auf dem kalten Fließen Boden der alten Küche. Sie hatte bloß ein dünnes, weißes Nachthemd an, welches sie nicht vor der Kälte des Bodens schützte. Doch das war ihr egal. Sie merkte die aufsteigende Kälte, die wahrscheinlich eine Blasenentzündung mit sich brachte, nicht. Den sie selbst war kälter als Eis, innerlich. Ein Mädchen, so unschuldig und so kaputt. Mit leerem Blick blickte sie auf die Lache vor ihr. Eine Blutlache. Jeder andere hätte sich bei diesem Anblick erschrocken, doch sie nicht. Für sie war dieser Anblick normal, fast schon ein Genuss. Die roten Tropfen, die sich von ihren Handgelenken abseilen und am Boden einen wunderschönen, roten See bildeten. Für sie war es das Schönste, was es geben konnte. Ein kleines Wunder. Sie selbst war auch mal ein Wunder gewesen. Das kleine, wunderbare Mädchen stolzer Eltern. Doch würden ihre Eltern sie jetzt sehen, wären sie alles andere als stolz. Vermutlich wären sie geschockt. Oder verletzt. Wahrscheinlich beides. Von dem einst wunderschönen Mädchen, war nichts mehr übrig. Ihr langes, blondes Haar war jetzt kurz und pechschwarz. Ihr liebliches Lächeln schon lange verschwunden. Mittlerweile hatte sie keine Kraft mehr dazu. Keine Kraft, so zu tun, als wäre alles okay. Und alles toll. Früher gaben ihr ihre Tränen Kraft. Und Entlastung. Doch irgendwann versickern sie, die Tränen. Jetzt gab es jemand Neues. Oh nein, sie hat keineswegs die Tränen ersetzt. Das könnte sie nicht. Nein, etwas viel Besseres, Nützlicheres. Ihren Freund, die Klinge. Wunderschön silbern mit roten Sprenkeln, Sprenkeln aus Blut. Was war sie denn nur für ein Wrack geworden? Leere. Diese gähnende Leere. Unerträglich. Keine Kraft zu essen. Zu trinken. Sie braucht sich nicht einmal die Mühe machen, sich die Finger in den Hals zu stecken, sie erbrach auch ohne. Ihr Körper hat sich bereits an diese Leere gewohnt. Sie kann essen, was sie will - kein Essen bleibt in ihrem Magen. Ihren Körper, bestehend aus Haut und Knochen, fand sie viel zu dick. Der ihr fehlende Schlaf machte sich als dicker, violetter Ring unter ihren Augen bemerkbar. Dass sie im Sommer Pullover trug, wunderte niemanden. Denn es gab auch niemanden, den es interessieren könnte. Ihre Eltern waren weg und der einzige Freund, der immer für sie da war, wenn sie ihn brauchte, war die Klinge. Aber sie war stolz darauf. Stolz, wenigstens irgendetwas zu haben. Sie hatte alle Spiegel in ihrem Haus abmontiert und entsorgt. Sie ertrug den Anblick nicht. Den Anblick ihres kaputten Ichs. Auch die Hoffnung war verschwunden. Ihr Körper war von Gänsehaut eingehüllt und ihr Magen knurrte. Doch das alles merkte sie nicht. Sie war in ihrer eigenen Welt gefangen. Einer Welt weit weg von der unseren. Eine Welt voller Leid und Schmerz. Sie sah keinen Sinn in Dingen. Sie wusste nicht, warum sie lebte, warum sie atmete. Nicht einmal, warum sie gerade Blut an ihren Armen herunterrinnen sah. Das alles ergab für sie keinen Sinn. Der Schnitt war wieder einmal zu tief, denn sonst hätte die Wunde längst aufgehört zu bluten. Der Blutsee wurde größer und größer. Doch es kümmerte sie nicht. Sie war versunken in ihren Gedanken. Sie fragte sich, warum man überhaupt denken musste. Ohne wäre es doch viel besser. Das Leben wäre dann sicher um einiges erträglicher. Dieser unerträgliche Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht mehr richtig atmen. Sie hasste es. Sie hasste es so sehr. Sich selbst, das Leben und ihr Haus. Zu Hause war sie hier schon lange nicht mehr. Ihr Zuhause war mit ihren Eltern mitgestorben. Was war das nur für ein Leben das sie lebte? Lebte sie denn überhaupt? Sie atmete, weil sie es musste. Warum nicht alles einfach beenden? Nur ein Schritt weiter, ein Schnitt weiter und alles wäre vorbei. Der ganze Schmerz wäre weg. Sie wäre erlöst. Aber was, wenn nicht? Was, wenn sie überleben würde, wie so oft schon? Innerlich am Ende aber körperlich noch am Leben. Es war ein nie endender Kreislauf. Ein Teufelskreis. Wie sehr sie es hasste, keinen Ausweg zu sehen. Keinen Ausweg aus den zerbrochenen Mauern ihrer Seele. Lange hatte sie sich verschanzt, versteckt vor allem und jeden, weit entfernt von den Menschen und Straßen und dem ganzem Leid. Doch diese Mauern waren nicht unzerstörbar. Es war vorauszusehen, dass das auf lange Dauer nicht gut gehen konnte. Irgendwann war es dann soweit. Alles, was sie sich zum Schutz aufgebaut hatte, zerbrach. Alles kaputt innerhalb einer Millisekunde. Alles umsonst. Alles vorbei. Und das alles nur wegen einem Wort. Diesem einen verschissenen Wort. Schlampe. War sie wirklich schon so armselig, um wegen einem Wort so am Ende zu sein? Wegen einem einzigen Wort von diesem Idioten? Tausende Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Ihr Kopf dröhnte. Alles was sie wollte war, dass es aufhörte. Es soll aufhören. Sie war so kaputt und doch spürte sie diesen Schmerz. Das war doch alles gar nicht möglich. Wie kann jemand so Unschuldiges so sehr leiden? Ihre Augen waren feucht. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass sie zu weinen angefangen hatte. Das war ungewöhnlich. Sie hatte doch seit Monaten nicht mehr geweint. Doch es half. Es löste die Spannung in ihrem Körper. Vielleicht war das ein Zeichen? Ein Zeichen, dass dies der perfekte Moment sein könnte? Soll sie es tun? Das alles hinter sich lassen? Alles beenden? Würde sie jemand vermissen? Ihre Oma vielleicht? Nein, die war dement. Die hatte die doch schon längst vergessen. Vielleicht der Postbote, der ihr täglich die Post brachte? Nein, der wäre froh, eine Zeitung weniger ausliefern zu müssen. Und sonst? Sonst gab es niemanden. Sie beschloss eine Münze zu werfen. Zahl das Leben und Kopf der Tod. Kopf. Dann war es wohl entschieden. Sie nahm ihre Klinge und atmete tief ein. Jetzt. Jetzt war es endlich soweit. Gleich war sie all den Schmerz los. Adrenalin strömte durch ihren Körper und sie war bereit. Mehr als bereit. Es war, als würde ihr größter Wunsch endlich in Erfüllung gehen. Sie setzte an und schnitt. Das Blut spritze durch den ganzen Raum. Ihr Nachthemd, ihre Haut, der Boden, die Küchenmöbel, alles voller Blutspritzer. Das Blut quoll aus ihrem Arm wie Wasser aus einer Quelle. Schmerzverzerrt verzog sie das Gesicht. 30 Sekunden stark sein, redete sie sich selbst ein. 30 Sekunden. War es wohl die richtige Entscheidung? Um darüber nachzudenken war es wohl zu spät. Vorsichtig versuchte sie aufzustehen, ihre Füße knickten aber sofort wieder ein und sie sackte am Boden zusammen. Alles begann sich zu drehen und ihr Sichtfeld verkleinerte sich. Jetzt war es wohl soweit. Ein letztes Mal atmete sie die stickige Luft der alten Küche ein und schloss die Augen. Ein flüsterndes „Es ist vollbracht" kam noch über ihre Lippen, dann wanderte sie über in das Reich der Toten, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, ohne Schmerz und Leid.

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