NICO

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„ Weshalb magst du mich nicht?"

„ Alter, ich glaube es hackt bei dir!"

„ Was hast du gesagt?"

„ Dämlicher Volltrottel." Fauchte sie in die düstere, von Nieselregen heimgesuchte Nacht.

„ Entschuldige, was hast du gesagt? Ich kann dich so schlecht hören. Komm doch runter!" Rief er zuckersüss zu ihr hoch und dabei fiel ihm die Kapuze seines Sweatshirts nach hinten.

Ihr stockte für eine Sekunde der Atem, als sie in das bleiche, maskuline Gesicht blickte. Und das blaue, blutunterlaufene Auge sah.

Es tat ihr weh.

Für sie war er ein schöner Mann. Möglicherweise der Schönste, den sie jemals gesehen hatte und es ärgerte sie.

Es kotzte sie an, dass sie von seinem Aussehen so bezaubert war, obwohl sie sich geschworen hatte, sich niemals nur wegen Äusserlichkeiten zu einem Menschen hingezogen zu fühlen.

Nur aus diesem Grund stieg sie auf das Garagendach unter dem Fenster.

Und um unter die ganze Sache einen Schlussstrich zu ziehen.

Nach einem letzten Blick ins Zimmer, wo ihre Brüder auf dem Doppelbett lagen, dass sie sich zu dritt teilten, tastete sie sich langsam, auf allen Vieren zum Rand hin.

Zum Glück schliefen ihre beiden Brüder.

Wenn sie mitbekämen, wer hier gerade Romeo unter ihrem Fenster spielte, dann wären sie aufgesprungen und hätten ihn windelweichgeprügelt.

„ Was ist, kommst du jetzt?" Sie war sich sicher, dass er sie sehr wohl verstanden hatte, jedoch nur einen Vorwand brauchte, um sie nach unten zu locken.

„ Ich mach ja schon, ich mach ja schon." Stiess sie gepresst heraus und als sie über den Rand schaute, stand er grinsend unterhalb von ihr.

Der Grund allen Übels.

Nico.

Sie setzte sich hin und die ohnehin schon nasse Jogginghose sog sich jetzt auch noch am Arsch mit Wasser voll.

Egal, dachte sie sich, dann würde sie eben eine Blasenentzündung kriegen.

Ihr kam es so vor, als die Beine so über dem Dach baumelten, als täte sich vor ihr ein ewig tiefer Abgrund auf, der sie zu verschlingen drohte, doch dann streckte ihr der Idiot die Arme einladend entgegen und lächelte sie scheu und gleichzeitig fragend an.

Und zerstörte somit ihre Vorstellung vom ewigen Fall in den Tod.

Erstaunt sog sie Luft ein. Er bot ihr seine Hilfe an und besass dann auch noch die Frechheit scheu zu sein.

Sie scheu anzusehen!

Sie wollte seine Hilfe schon zum Teufel schicken, da widersprach er ihr: „ Lehn jetzt bloss nicht ab, wir beide wissen, was für eine unsportliche Nudel du bist."

„ Kartoffelsack wäre die bessere Bezeichnung." Sagte sie beleidigt. Ihr Herz setzte einen Satz aus, als sie sein tiefes, wohlklingendes Lachen hörte. Sogar seine Stimme verursachte ihr eine Gänsehaut.

„ Also komm, lass dich fallen, ich fang dich schon auf!" Versicherte er ihr und trat noch einen Schritt näher an die Mauer.

Sie zögerte und schaute unsicher an sich hinunter. Naja, sie war... Sie war halt einfach da, zusammen mit diesen Zusatzpolstern und obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, so zuckte sie doch jedes Mal innerlich zusammen, wenn es um das Thema Gewicht ging oder ums Essen. Und irgendwas mit Physik und frei fallenden Körpern klingelte ihr in den Ohren. In ihrem Kopf hörte sie die ätzende Stimme ihres Physiklehrers und zum ersten Mal wünschte sie sich, in seinem Unterricht nicht auf Gehirndurchfall geschalten zu haben, wenn er referiert hatte.

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