Am nächsten Tag klingelte das Telefon. Ganz nebenbei bekam ich mit, wie mein Vater den Hörer abnahm und dann mit gedämpfter Stimme sprach. Als er das Gespräch beendet hatte, war ich neugierig geworden und fragte ihn, wer am anderen Ende der Leitung gewesen war.
"Es war Oma. Sie sagte mir, dass Opa Zuhause wie ein Tiger hin und her laufen würde, überhaupt keine Ruhe finden könne und sie Angst habe, dass er sich noch etwas antut. Sie möchte wissen, was er genau mit dir gemacht hat und fragt, ob du es ihr sagen könntest. Sie glaubt ihm dann vielleicht helfen zu können."
Entsetzt und völlig überfordert mit der Aufforderung meiner Großmutter zu erzählen, was ihr Mann alles mit mir gemacht hat, entgegnete ich entgeistert: "Das ist doch nicht ihr Ernst oder? Ich kann und will ihr das nicht alles erzählen!" Bisher hatte ich es doch selbst nicht mal gewagt, mich mit den Einzelheiten zu befassen, die meine Beziehung mit meinem Großvater betrafen. Ich fand es seltsam, dass meine Oma Einzelheiten über den sexuellen Missbrauch wissen wollte, und dann glaubte ihrem Mann helfen zu können. Außerdem, wusste ich auch gar nicht, was es genau war, das meinen Opa jetzt so umtrieb. War es die Schuld, die ihm jetzt auf einmal bewusst wurde oder gar Reue? Aber war es Reue, dass das Ganze ans Tageslicht gekommen war, oder tat es ihm wirklich Leid, dass er mich sexuell missbraucht hatte?
Sicher war jedenfalls, dass ich meiner Oma nicht die Details erzählen würde. Und dabei blieb es dann auch.
Einige Tage später schlenderte ich gerade, von der Schule kommend, gedankenverloren in die Einfahrt zu unserem Haus. Mein Blick war gesenkt, doch als ich meinen Kopf hob erstarrte ich. War das Großvater's Auto, dass da auf dem Parkplatz meiner Eltern stand??? Ich konnte es nicht fassen und Panik ergriff mich. Was wollte er hier? Was erwartete er von mir? Ich konnte doch jetzt nicht ins Haus gehen, ihn begrüßen und so tun, als wäre gar nichts geschehen!?
Also entfernte ich mich wieder, hoffte, dass meine Mutter mich noch nicht aus dem Küchenfenster gesehen hatte und lief eine Runde um den Häuserblock, während meine Gedanken sich überschlugen, ich aber gleichzeitig nichts Sinnvolles denken konnte. Irgendwann stand ich dann wieder vor unserem Haus und fühlte mich einfach nur elend. Ängstlich tat ich dann doch das Unvermeidliche und klingelte an der Haustür.
Meine Mutter öffnete mit den Worten: "Opa ist da." "Ich weiß" ,entgegnete ich nur und verschwand schnell in meinem Zimmer. Ich wusste, dass mein Großvater unten im Wohnzimmer auf mich warten würde und dass er schon mit meiner Mutter gesprochen hatte. Wurde von mir nun erwartet, dass ich brav hinunter gehe, mir seine Entschuldigung anhöre und dann wieder alles "in Butter" ist? War das so einfach? Für mich jedenfalls nicht. So setzte ich mich auf mein Bett und versuchte mich mit irgendetwas abzulenken. Plötzlich hörte ich Schritte die Treppe hoch kommen und meine Mutter stand kurz darauf in der Tür.
"Opa will mit dir reden, er wartet im Wohnzimmer auf dich." "Ich will aber nicht hinunter gehen. Ich kann das nicht!" "Sarah, er möchte sich entschuldigen, er ist extra deswegen her gekommen." War das wirklich möglich? Meine Mutter hatte es doch tatsächlich geschafft mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Mein Großvater besaß ein Prachtstück von Auto. Jedoch nutzte er dieses nicht mehr als für die wöchentlichen Einkäufe und kleinen Besorgungen, da er sich auf Grund seines fortgeschrittenen Alters in letzter Zeit nicht mehr getraute lange Strecken am Stück Auto zu fahren. Und nun war er extra hier her gefahren, um sich bei mir zu entschuldigen, trotz seiner Angst vor langen Autofahrten.
Ich würde also hinunter gehen. Aber würde ich ihm vergeben können? Würde das so schnell gehen? Irgendwie fühlte ich mich zu etwas gedrängt zu dem ich noch eigentlich gar nicht bereit war, jedenfalls nicht von Herzen. "Aber was soll ich denn sagen, wenn ich dann unten vor ihm stehe?" "Du hörst dir einfach erstmal an, was er zu sagen hat, entgegnete meine Mutter.
Es war ein sehr seltsames Gefühl. Einerseits pochte mein Herz wie wild, als ich die Treppe hinunter lief, andererseits fühlte ich mich wie eine Marionette, die an Fäden hing und die genau das tat, was man sie tun lassen wollte, einfach damit das Theaterstück seinen Lauf nahm und alles so wurde, wie man es gerne sah. Dann stand ich vor meinem Großvater. Er saß auf dem Sofa und blickte mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten konnte. Aber irgendwie schien er um einige Jahre gealtert zu sein, seitdem ich ihn das letzte Mal sah. Niemand anders war im Raum außer meine Mutter, mein Opa und ich und dann entschuldigte er sich dafür, dass er mich sexuell missbraucht hatte .Ich wusste nicht, ob seine Worte ehrlich gemeint waren, kein einziges davon war im Nachhinein in meinem Gedächnis hängen geblieben. Es war wie ein seltsamer Traum gewesen. Und ich hatte dann etwas Ähnliches wie: "Ich möchte dir vergeben!" oder etwas Ähnliches gesagt.
Aber alles war so leer und bedeutungslos gewesen, denn ich tat nur das, was anscheinend jeder von mir erwartete, damit unsere Familie nicht auseinanderbrach. Wenn es so aussäh, dass ich meinem Großvater verzeihen könne, vielleicht konnten es dann meine Eltern auch besser. Außerdem wollte ich nicht, dass meine Geschwister und die Öffentlichkeit davon erfuhren. Meine Geschwister waren einfach noch zu jung. Ich wollte sie nicht mit meiner Vergangenheit belasten. Sie sollten das Bild, das sie derzeit von meinen Großeltern hatten, bewahren. Wenigstens ihre heile Welt sollte erhalten bleiben. Irgendwann würde vielleicht der richtige Augenblick kommen um ihnen von meiner Geschichte zu erzählen. Irgendwann, jetzt noch nicht.
Ich wusste, dass ich meinen Großvater anzeigen konnte. Wäre meine Großmutter nicht gewesen, ich hätte es vielleicht getan. Sie hatte schon genug durchgemacht und würde sicher zusammenbrechen, müsste Opa ins Gefängnis. Dieses Leid wollte ich ihr ersparen. Andererseits wollte ich auch aus Scham um meinetwillen kein Aufsehen erregen. Mitleidige Blicke oder dergleichen konnte ich nicht gebrauchen. Also entschied ich mich dazu, dass dieser Schandfleck in unserer Familie nur meinen Großeltern und meiner Eltern bekannt sein sollte. Alles würde nach Außen hin so weiter gehen, wie bisher. Mein Großvater würde zwar keine rechtlichen Konsequenzen befürchten müssen. Aber ich wusste auch, dass selbst wenn ich mir Mühe geben würde es allen Recht zu machen, dieser Schatten der Vergangenheit immer über unserer Familie und den Beziehungen hängen würde, es sei denn es geschähe ein Wunder.
Am nächsten Morgen bot mir mein Großvater an, mich in die Schule zu fahren und vorher noch in einem Café frühstücken zu gehen. Warum tat er das? Versuchte er krampfhaft wieder etwas gut zu machen oder wollte er nur mit mir alleine sein? Ich verstand es nicht und fühlte mich sehr unwohl dabei. Aber ich hatte ihm ja gesagt, dass ich versuchen würde ihm zu vergeben. Also war es doch angemessen, diese Art "Versöhnungsangebot" anzunehmen, oder? Meine Eltern hatten nichts dagegen. Also sagte ich zu und wir fuhren los. Im Café angekommen bestellte ich mir ein Schokocroissant, dem ich einfach nicht widerstehen konnte. Opa bestellte sich einen Café und wir setzten uns hin. So saßen wir da uns sagten nichts. Ich lauschte angestrengt auf die Geräusche im Café und beobachtete die Menschen um mich herum. Manche unterhielten sich leise, während sie dampfende Tassen in den Händen hielten oder sich Gebäck in den Mund schoben. Andere waren hinter der Morgenzeitung verschwunden und schienen einen interessanten Artikel gefunden zu haben.
Plötzlich riss mich mein Großvater jäh aus den Gedanken: "Warum hast du es gesagt?" "Was gesagt?" fragte ich ihn verwirrt. "Na das mit uns!" Was sollte ich darauf sagen? Ich war völlig perplex! Was waren die richtigen Worte für so eine unerwartete Frage, deren Beweggrund ich nicht ausmachen oder begreifen konnte? Warum fragte er mich das? War es ihm denn nicht klar gewesen, dass ich das nicht ewig für mich behalten konnte? War er sich der Tragweite seines Handelns immer noch nicht bewusst, darüber was sein Handeln an und mit mir über Jahre mit mir gemacht hatte? Wusste er denn nicht, dass ich irgendwann unter der Last des Schweigens zusammenbrechen würde und alles ans Tageslicht kommen würde?
Schließlich sagte ich: "Ich konnte es einfach nicht mehr geheim halten. Es kam so aus mir heraus. Es ging nicht mehr!" Was war denn das? Es klang wie eine Entschuldigung! Als ob ich mich nun vor meinem Großvater rechtfertigen müsste, dass ich unser großes Geheimnis, das nur für uns beide bestimmt war, verraten hätte und ihm dadurch Schmach und Schande bereitet hätte. Er schaffte es doch tatsächlich, dass ich mich schuldig fühlte, als wäre ich die Ursache seines Genickbruchs.
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Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.
Ficción GeneralDie Geschichte handelt von der jungen Frau Sarah, die in ihrer Kindheit jahrelang von ihrem Großvater sexuell missbraucht wurde. Als Kind begreift sie zunächst gar nicht, was mit ihr geschieht. Doch nach und nach realisiert sie, dass das, was ihr Gr...