Vier

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Ich hatte aufgehört zu schlafen.
Ich tat so, jedes Mal wenn Charlotte kam und nachsah, doch ich konnte es einfach nicht.

Charlotte verbrachte nicht mehr jede Nacht bei mir. In den Nächten, wo sie nicht da war, machte ich mir nicht einmal mehr die Mühe, mich umzuziehen und hinzulegen - es brachte eh nichts mehr.

Ich setzte mich an den See. Betrachtete die spiegelglatte Oberfläche und die Reflektion des Mondes und der Sterne und rauchte, formte weiße Striemen im nebeligen Dunst, der erfüllt vom Zirpen der Grillen und dem Quaken von Fröschen war.

Nächtelang tat ich das. Und ich stürzte ab.

In einer dieser Nächte war ich so müde, dass ich mich an einen großen Baum gelehnt ans Seeufer ganz in der Nähe des Stegs setzte, weil meine Beine mich nicht mehr tragen wollten. Mir fielen oft die Augen zu. Meine Finger waren so schwer, dass ich nicht einmal mehr die Zigarettenschachtel aus meiner Manteltasche ziehen konnte.

Ich stellte mir vor, wie sie aussehen könnte. Ob sie mir glich, oder eher ihm - ich konnte sein Gesicht so klar vor mir formen, als hätte ich es gestern noch gesehen. Obwohl ich den Drang verspürte, zu wissen, wer sie war, wie sie aussah, hatte ich Angst davor. Ich hatte solch eine Angst, weil ich sie abgegeben hatte, weil ich sie nicht gewollt hatte, sie von mir abgestoßen hatte wie ein Geschwür. Sie hatte das nicht verdient.

Ich fragte mich, was Jamie wohl davon gedacht hätte. Ob er mich noch hätte ansehen können. Er hätte mich gehasst, vermutlich - weil ich so abscheulich gewesen war.

Ich hatte die Augen geschlossen, als ich das Geräusch hörte.

Es war ein lautes Klatschen, so als hätte jemand auf die Wasseroberfläche geschlagen, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag. Ich fuhr in mich zusammen, weil es so plötzlich war, und rutschte aus Reflex nach hinten.

Da war ein Mann am Seeufer.

Er keuchte und hustete, lag mit dem Gesicht nach vorne im Gras neben des Stegs und versuchte, sich mit den Armen hochzudrücken, rutschte aber immer wieder ab. Er spuckte Wasser und röchelte ein Wort, das ich zuerst nicht verstand. Dann wurde es klarer. "Rusalka", rief er, "Rusalka!"

Ich traute mich nicht zu atmen. Ich wusste nicht, warum ich mich so dermaßen fürchtete. Es war so unwirklich.

"Rusalka, lass mich wieder zurück!" Er rutschte näher ans Wasser, streckte den Arm aus und fasste hinein, versuchte hineinzugleiten, doch sein Arm wurde wieder hochgerissen und er schien von etwas zurückgehalten zu werden. Er gab nicht auf, versuchte es erneut und erneut, und irgendwann schluchzte er, brach in sich zusammen und sein Rücken, vor Nässe im Mondlicht glänzend, verkrampfte sich und wurde krumm. "Bitte, Rusalka", flehte er heiser, dann verstummte er.

Es war so ruhig, dass ich mit jeder verstreichenden Sekunde überzeugter davon wurde, dass ich träumte.

Doch dann zerriss ein lautes Lachen die Stille.

Das Kichern kam nicht von dem Mann, der sich nun auch überrascht aufdrückte, es war die Stimme einer Frau. Mein Herz hatte vergessen, zu schlagen, und es zog meine Brust und meine Lungen zusammen. Ich presste mir die Hand vor den Mund, um mein Keuchen zu unterdrücken.

Je lauter es wurde, desto mehr richtete der Mann sich mit schier neugewonnenen Kräften auf, bis er schließlich taumelnd auf den Füßen stand und rückwärts ein paar Schritte vom Ufer zurückstolperte. Er war vollkommen nackt. Als das Dämmerlicht über seinen schmalen Körper strich, streifte es einige sehr prominente Narben auf seinen Armen und Beinen, so tief, dass es mir Angst machte.

Und dann erstarb das Lachen. Die Stimme aus dem Nirgendwo holte tief Luft "Glashan", hauchte sie durch die Sträucher. Die Wasseroberfläche kräuselte sich bei jedem ihrer Buchstaben, ähnlich der Gänsehaut auf meinen Schultern. "Oh, Glashan."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 01, 2016 ⏰

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