Kapitel 6

7 0 0
                                    

*Vergangenheit*

Harry


 

"Endlich Wochenende!", ruft Niall, als wir das Bergwerk verlassen und uns auf den Heimweg machen.

Erleichtert stimme ich ihm zu und freue mich nur noch auf zu Hause.

Wir beschweren uns über die viele Arbeit im Werk und gehen die Schlucht entlang, immer weiter weg von diesem riesigen Werk.

"Naja, immerhin können wir froh sein, Arbeit zu haben", beende ich unser Gespräch, als wir an der üblichen Brücke ankommen, wo wir uns immer verabschieden.

Niall bleibt stehen "Da hast du Recht, du weißt doch wie es Liam momentan geht".

Liam ist ein Freund von uns, der bei der Wirtschaftskrise gefeuert wurde. Er war einer der 200, die das Werk verlassen mussten und nun arbeitslos sind. Momentan dürfen wir uns gar nicht beschweren, dass die Arbeit so anstrengend ist, da wir so immerhin noch Geld verdienen und nicht nur zu Hause sitzen.

Niall und ich verabschieden uns und machen uns beide auf den Weg nach Hause.


 

"Hier mein Schatz", sagt meine Mutter, als sie mir das Mittagessen überreicht.

"Danke"

Gemma, meine Eltern und ich sitzen gemeinsam am Tisch und essen Fisch, welchen mein Vater heute von der Arbeit mit nach Hause genommen hat.

"Wie geht es dir heute, Gemma?", fragt mein Vater sie.

Sie stochert verloren in ihrem Essen herum bis sie antwortet: "Ich habe leichte Kopfschmerzen"

Gemma hat Hirntumor und in unserer Zeit gibt es noch nicht viel, womit man den Tumor behandeln kann. Es gibt zwar schon eine Chemotherapie, aber die kann man nur in vier Städten der Welt druchführen, noch dazu sind sie extrem teuer.

Alleine die Reise von hier nach Seattle, New York, Dublin oder London kostet uns ein Vermögen. Wir wohnen zwar in England, aber wir sind an der Westküste, also ziemlich weit weg von London. Mein Vater arbeitet in der Fischerei und ich im Bergwerk.

Ich habe ja schon gesagt, dass ich nicht wenig verdiene, aber mit wenig meine ich für die momentanen Verhältnisse nicht wenig. Mein Vater verdient pro Fisch eine kleine Menge, dass Problem ist nur, dass das keine fixe Einnahme ist. In manchen Monaten verdient er mäßig gut und in manchen alles andere als gut. Meine Mutter ist seit sie mit mir schwanger war abreitslos, da es damals schon schwere Probleme in der Wirtschaft gab. Nun kümmert sie sich eben um unser Haus und den riesigen Garten.

Aber so eine Therapie kostet um einiges mehr als mein Vater und ich zusammen in einem Jahr verdienen, genau gesagt um manche 1000€ mehr. Somit muss sich Gemma mit ein paar Tabletten rum schlagen, die ihr nicht viel helfen. Sie nehmen ihr zwar Großteils den Schmerz, aber den Tumor vernichten sie nicht. Jetzt müssen wir nur hoffen, dass der Tumor nicht wächst und die Schmerzen so klein bleiben, dass die Tabletten reichen und sie Gemma die Schmerzen nehmen können.

"Schlimmes Kopfweh?", fragt meine Mutter nach.

Gemma schüttelt nur den Kopf. Wir können echt froh sein, dass Gemma in der Anfangsphase ist und sie sich noch frei bewegen kann und noch nicht sehr eingeschränkt ist.

Meine Mutter starrt wieder auf ihren Teller, auch ihr Hunger scheint vergangen zu sein. Meinem Vater geht es gleich, und auch ich habe keinen großen Appetit mehr. Diese Krankheit nimmt uns alle ziemlich mit, da wir eine enge Beziehung untereinander haben.

Ich schiebe den Teller von mir weg und lehne mich zurück.

Auch Gemma stochert noch immer in ihrem Fisch herum, als sie jedoch bemerkt, dass wir auch alle keinen Hunger mehr haben, knurrt sie: "Ihr, alle drei, werdet jetzt diesen Fisch essen und nicht von einer Sekunde auf die andere keinen Hunger mehr haben"

Meine Mutter starrt Gemma an und will gerade etwas sagen, als meine Schwester sie unterbricht: "Papa hat die Fische extra für uns mitgenommen, wir werden diesen jetzt essen!"

Alle starren wieder auf den Teller vor sich. "Mir geht es gut", fügt sie jetzt noch mit einem scharfen Unterton dazu.

"Mahlzeit", beende ich das Gespräch.


 

Mit meinem Füßen auf dem Verandagelände sitze ich auf einem Sessel und starre vor mich hin.

Zwischen den ganzen Bäumen hindurch, die bei unserem Haus wachsen, sieht man die orangen, letzten Sonnenstrahlen, die den Tag beenden und die Nacht beginnen lassen.

Plötzlich höre ich Füße hinter mir, die sich zu mir bewegen. "Hey"

"Hey, Gemma"

Sie holt sich den Schaukelstuhl, der hinten in der Ecke der Veranda steht und zieht ihn zu mir. Als sie sich den Stuhl so gerichtet hat, wie sie ihn gern hätte, lässt sie sich erschöpft auf ihn fallen.

Ich sehe zu ihr und beobachte sie genau. Sie hat die Augen geschlossen und die Arme auf die Lehnen gelegt. Sie hat die gleichen braunen Haare wie ich und die gleichen Locken.

"Ich habe starkes Kopfweh", krächzt Gemma plötzlich, hat aber noch immer ihre Augen geschlossen.

Ich schaue wieder nach vorne zu den Bäumen. "Wie stark?"


"Auf einer Skala von 1-10 ist es eine sechs", antwortet sie mir.

"So eine hohe Zahl hast du noch nie gesagt", seufze ich und tue es Gemma gleich und schließe meine Augen.


Gemma atmet laut auf und raunzt.

"Soll ich dich zum Arzt fahren?"

"Nein, das wird schon wieder vergehen, ich will nicht, dass Mama und Papa etwas mitbekommen"

So ist Gemma, stur aber extrem tapfer. Eine Heulsuse war sie noch nie, sie behält immer alles für sich.

Wir sitzen noch lange auf der Veranda und unterhalten uns über alles mögliche. Ihren Hirntumor lassen wir dabei aber immer aus, dass ist ein Thema, welches wir so gut es geht vermeiden.

"Ich werde schlafen gehen", sagt Gemma schließlich.

"Ja, ist eine gute Idee"

Ich trage für Gemma den Schaukelstuhl zurück und wir gehen ins Haus. Unsere Eltern liegen gemeinsam auf dem kleinen Sofa und schlafen. Gemma geht zum Fernseher und schaltet ihn aus, ich hole währenddessen eine Decke und meine Schwester nimmt sie mir aus der Hand. Sie breitet die Decke über unsere Eltern und ich schalte das Licht aus.

Schweigend gehen wir die Treppe hoch.

"Gute Nacht Harry", sagt Gemma bevor sie dir Tür zu ihrem Zimmer schließt.

"Gute Nacht Gemma"


 


 


 


 


 

StolenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt