Es ist eine unbeschreiblich schöne Aussicht von hier oben. DieMariannen-Klippe ist einer der schönsten Orte, die ich kenne. Vonhier sieht man den Mariannen-Wald, rechts liegt die Stadt, der Mount-Mary ist direkt hinter dem Wald und das Meer kann man nur durch die frische Seeluft erahnen. Als ich noch ein klein war, bin ich oft mit meinen Eltern hier gewesen. An der alten knorrigen Weide haben wireine Schaukel aufgehängt. Jetzt hängt dort nur noch ein verrottetes Seil. Wie heißt es so schön? Alles ist vergänglich. Absolut alles. Sogar Freundschaften. Maja hat sich an dieser Weide erhängt, Nicole ist von dieser Klippe gesprungen und beide haben mich verlassen. Ich habe ihnen bei den Vorbereitungen geholfen. Ich habe ihnen geschworen zu schweigen. Ich habe geschwiegen. Die beiden gelten als vermisst, da ich niemandem etwas von ihrem Selbstmord gesagt habe. Ich habe mein Leid verbergen müssen. Dadurch habe ich gelernt zu lachen, anstatt zu weinen. Meine wahren Gefühle waren nicht wichtig. Aber irgendwie musste ich den Druck ablassen. An mir. Ich habe davon nicht viele Narben, aber es müssen so um die 70 Stück sein. Als Olivia einen Verdacht geschöpft hatte, habe ich aufgehört.
Jetztsitze ich hier. Das rote Licht der untergehenden Sonne scheint mirins Gesicht und ein leichter Wind weht durch meine Haare. Heute istein schöner und warmer Tag. Damals sagte man mir immer, ich sei einEngel. Engel haben Flügel, weil sie aus purer Hoffnung bestehen,denn Hoffnung verleiht Flügel. Was soll schon passieren? Ein Engelkann fliegen. Ich spüre den starken Wind, als ich die Klippeherunterstürze. Ich bin doch kein Engel, denn wäre ich einer, würdeich fliegen. „NEIN!" Olivia schreit mir nach. Ich flüstere: „Es tut mir Leid." Ein harter Aufprall. Meine Knochen werdenzertrümmert. Ich bin tot und doch lebe ich. Ich lebe das Leben nachdem Tod. Ich stehe wieder auf der Klippe. Neben mir sitzt dieweinende Olivia. Sie tut mir Leid, aber ich sah keinen anderenAusweg. Ich bin jetzt wieder frei von all meinen Problemen. „Warumhast du das getan? Ich war doch immer für dich da." Olivias Stimmegeht fast unter ihren Tränen unter. Sie wird darüber schweigen,genauso wie ich. Sie will es einfach nicht wahr haben, genauso wieich. Wir sind uns so ähnlich, aber trotzdem so verschieden. Meinebeste Freundin hat nun mein Leid erfahren. Leise haucht sie: „ Ichwerde dich begraben, Annja, und wenn es das letzte ist, was ich tue."Sie ist eine wahre Freundin. Schnell läuft sie los.
Nachlanger Zeit kommt sie wieder. Sie schleppt meine Leiche bis zurWeide, dann holt sie aus ihrem Rucksack einen Klappspaten und fängtan ein Loch zu graben. Sie gräbt nicht besonders tief, aber ummich zu begraben, reicht es. Nachdem sie mich hinein gelegt und dasLoch wieder zu geschüttet hat, schweigt sie, denn wer trauert, derschweigt. Plötzlich erschrickt sie. Typisch Olivia, sich vor ihremeigenen Klingelton zu erschrecken. „ Ja, Mama, was ist? Sind nochReste da? Das reicht ja. Annja.....sie ist schon vor einer halbenStunde gegangen. Ja, Mama, ich komme." Ein wenig beruhigt sie sichnoch, dann geht sie los. Ein paar Schritte folge ich ihr , dannentscheide ich mich, lieber bei der Klippe zu bleiben. Es wird schonlangsam dunkel. Dort wo die Sonne untergeht, ist der Himmel blutrotgefärbt. Ich bin gespannt wie der nächste Tag aussehen wird.
JederTag ist schön, aber der hier ist extrem doof verpackt. Ich bin froh,dass ich nur ein Geist bin, denn ansonsten hätte mich heute schonein Vogel angekackt, ein Auto wäre neben mir durch eine riesigePfütze gefahren und ich wäre gegen eine Laterne gelaufen. LetzteNacht habe ich herausgefunden, dass ich in Tiere schlüpfen und siesomit lenken kann. Bei Menschen geht das auch, aber nur bedingt. Ichbin auch in meinen alten Körper geschlüpft, aber gelebt habe ichnicht. Die Wiederauferstehung ist also unmöglich. Jetzt sitze ichzumindest wieder auf der Klippe. Der Sonnenaufgang ist wunderschön. Es ist so entspannt tot zu sein, aber auch echt langweilig. Wenn manlebt, gibt es viel mehr Herausforderungen, weil man in seinenMöglichkeiten eingeschränkt ist. Aber wenn man tot ist, kann mantun und lassen, was man will und hat alle Zeit der Welt. Es gibteinfach keine Grenzen. Naja, vielleicht wird mir das sogar nochnützlich sein, obwohl ich es sehr bezweifle. Was soll denn hier inWinterburg schon großartig passieren? Diese Stadt ist so klein undverschlafen. Die meisten Tiere schlafen noch, auch wenn es schonungefähr um neun ist. Eine Amselmutter ist schon wach und füttertihre Jungen. Etwas weiter daneben joggt gerade eine Frau RichtungKlippe. Damals wäre ich weggelaufen und hätte mich schnellversteckt, damit ich weiterhin allein sein kann, aber ich weiß, dassmich jetzt eh niemand mehr sieht oder hört. Ich betrachte alsoweiterhin die Sonne, wie sie immer weiter am Himmel aufsteigt. Eintoller Anblick. Man spürt, dass es langsam wärmer und wie der Windimmer schwächer wird.
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Dreams come true (Pausiert)
Mystery / ThrillerEin Mädchen, drei Freundinnen, ein Junge, eine Klippe. So vieles kann vergehen, so vieles wird zerstört. Das Leben nach dem Tod hilft da auch nicht so viel. Oder doch? Begleite ein junges Mädchen durch ihr Leben, oder was davon noch übrig ist, und...