Kapitel 34

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Diese Aufforderung brachte mein Herz zum Stolpern. "Warum?", presste ich hervor.
"Über ihn weiß ich nicht viel. Und ich habe gemerkt, dass es Christel nicht angenehm war, über ihn zu sprechen", antwortete er.
Das stimmte. Vor allem in meiner Familie war es ein unausgesprochenes Gesetz, dass man nicht über ihn redete. Es war lange her, dass ich mich mit jemandem über meinen Vater unterhalten hatte. "Eigentlich spreche ich nicht über ihn", erwiderte ich und blickte auf meine schmutzigen Turnschuhe.
"Das tut niemand. Sobald man seinen Namen erwähnt, trifft man auf eine Mauer des Schweigens", stellte Tristan fest. "Du würdest das Thema an meiner Stelle auch lieber vermeiden", sagte ich und schluckte. Meine Kehle fühlte sich staubig an und etwas kratzte in meinem Hals.
"Wieso?" Er ließ nicht locker. Und wahrscheinlich würde er auch nicht eher aufgeben, bis er eine Antwort erhalten hatte, die ihn zufriedenstellte.
Bereits der Gedanke, über alles sprechen zu müssen, drückte mich zu Boden und Trauer breitete sich in mir aus. Die Diskussion mit Tristan konnte ich mir eigentlich sparen, ich würde sie sowieso nicht gewinnen. Und nachdem mich der Besuch bei Merle gestern sehr belastet hatte, war es in dieser Lage sogar einfacher, weil ich mich mit allem schon auseinandergesetzt hatte.
"Komm mit", seufzte ich und bereute schon jetzt, so einfach nachgegeben zu haben.
Ich führte ihn einen Waldweg entlang, immer leicht bergauf. Der schwere Geruch nach Blättern und Fichtennadeln lag in der Luft und der feuchte Boden gab manchmal ein leises Schmatzen von sich. Vogelrufe erfüllten den Wald und ein Mal huschte ein Eichhörnchen über den Weg.
Wir waren etwa zwei oder drei Minuten gegangen, als ich in einen schmalen Trampelpfad einbog. An einigen Stellen war er von ein paar Pflanzen überwachsen, doch anscheinend wurde er manchmal trotzdem benutzt, da man mehrere Äste abgesägt hatte, um ihn begehbar zu halten.
Schließlich kamen wir an den Ort, den ich Tristan hatte zeigen wollen. "Hier ist mein Vater oft hergekommen, um nachzudenken."
Tristan warf mir einen schnellen Seitblick zu, dann schaute er sich um. Fast alles sah noch aus wie letztes Jahr. Die kleine Bank stand noch vor der hohen Fichte und auch die verblasste Tafel, die den Wanderer über den Wald informieren sollte.
Ich machte ein paar Schritte nach vorne, wo sich die kleine Brücke über den Fluss spannte. Das Gewässer war zwar weder reißend, noch besonders tief, doch unter uns ging es mindestens sieben Meter in die Tiefe. Auf dem steilen Abhang wuchsen lediglich schmale Sträucher, deren Wurzeln sich dort festkrallen konnten. Allerdings versperrte ein hohes Gitter am anderen Ende der Brücke das Weiterlaufen. "Wegen Waldarbeiten gesperrt", stand an dem Schild, das dort befestigt war.
Langsam betrat ich die Holzbohlen, die vom Regen nass und rutschig waren. Der Blick nach unten kostete mich jedes Mal aufs Neue ziemlich viel Überwindung. Höhenangst hatte ich zwar nicht, aber meistens bekam ich ein flaues Gefühl im Bauch.
"Wie viel weißt du?", fragte ich Tristan und drehte mich zu ihm um.
Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und stellte sich zu mir. "Nicht viel. Und dass Christel nicht unbedingt zu den zuverlässigsten Informationsquellen zählt, dürfte dir ja inzwischen bekannt sein."
Ich lehnte mich mit dem Rücken an das Geländer und schaute zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Vor diesem Gespräch hatte ich mich sogar bei meiner besten Freundin gedrückt. Alles war schon vor vielen Jahren geschehen, aber ich wusste nicht, wie ich die Ereignisse richtig interpretieren und damit umgehen sollte.
Deshalb schloss ich kurz die Augen, um mich darauf vorzubereiten, mir alles noch einmal ganz genau ins Gedächtnis zu rufen. Die wenigen Erinnerungen, die ich daran hatte, die Erzählungen meiner Familie und der Dorfbewohner. Viel darüber geredet hatte niemand und dass man mir nur Bruchteile des Ganzen gegeben hatte, machte es nicht einfacher.
Bei dem Gedanken an meinen Vater breitete sich Trauer in mir aus. Schon oft hatte ich über ihn nachgedacht, aber ich wurde einfach nicht aus ihm schlau.
"Ich weiß nicht viel über meinen Vater. Zu Hause ist es fast schon verboten, das Thema anzusprechen", sagte ich. "Aber ich denke, du möchtest nur die Dinge erfahren, die sich nach Yasmins Tod abgespielt haben, oder?"
Tristan nickte und ich ließ die Schultern hängen. Dass es eigentlich ein Teil unserer Abmachung gewesen war, nicht über meinen Vater zu sprechen, war nicht mehr wichtig. Bevor er nicht genau über alles Bescheid wusste, würde Tristan immer weiter nachhaken. Und vielleicht gewann er ja eine neue Erkenntnis, wenn er mehr über meinen Vater erfuhr. Zumindest redete ich mir das ein, um mich von dem unangenehmen Gespräch abzulenken.
"Nach Yasmins Tod hat sich meine Mutter immer mehr zurückgezogen. Sie wollte sich lieber im Stillen damit beschäftigen und ihren Weg finden, mit der Situation umzugehen.
Meinem Vater hat der Mord aber keine Ruhe gelassen. Er wollte sich an dem Mörder rächen." Ich schluckte. "Mama und er waren damals wirklich das komplette Gegenteil voneinander. Sie hat sich gewünscht, mit allem abschließen und es vergessen zu können. Aber Papa hat immer beteuert, dass er sich nicht eher damit abfinden könnte, bevor er den Mörder nicht gefunden hätte. Deshalb hat er angefangen, auf eigene Faust zu suchen."
Mit den letzten Worten war meine Stimme immer leiser geworden und ich räusperte mich. Meine Hände suchten am Geländer nach Halt.
"Fast wie wir", sagte Tristan. Irgendwie hatte er Recht. Mir selbst hatte der Mord in den letzten Tagen keine Ruhe gelassen.
"Er hat wirklich alles in Bewegung gesetzt, hat mit vielen Dorfbewohnern geredet und ist selbst zu der Stelle gefahren, an der man Yasmins Leiche gefunden hat. Keiner Mühe hat er gescheut, es war eben seine Art, den Tod seiner Tochter zu verarbeiten. Während Mama tagelang zu Hause saß, hat er gesucht. Zu dieser Zeit war ich noch ein Baby und meistens haben sich meine Großeltern, Christel oder Merle um mich gekümmert", fuhr ich fort. "Papa kam oft hierher, um nachzudenken. Zumindest hat Oma mir das erzählt. Für ihn war dieser Platz sein kleiner Rückzugsort."
Einen Moment lang lauschte ich dem Plätschern des Wassers, das tief unter uns dahinfloss. Ich stellte mir vor, wie mein Vater an derselben Stelle saß, an der ich gerade stand, die Augen geschlossen. Wie er sich auf die Geräusche des Waldes um ihn herum konzentrierte und den Wind auf seiner Haut spürte, der ihm durch die braunen Haare strich.
Mein Herz wurde schwer, doch ich riss mich zusammen. "Aber seine Suche blieb erfolglos. Nach einem Jahr hatte er den Mörder nicht gefunden. Meine Mutter hatte Yasmins Tod inzwischen überwunden und sich langsam wieder ihrem normalen Alltag zugewendet. Nicht so mein Vater. Er konnte nicht eher darüber hinwegkommen, bis er denjenigen ausfindig gemacht hatte, der schuld am Tod seiner Tochter war." Meine Stimme klang belegt und ich schluckte. Es kam ein leichter Wind auf, der mich frösteln ließ.
Tristan hatte seinen Blick in die Ferne gerichtet und in seinen Gesichtszügen lag Anspannung. Seine blonden Haare waren etwas zerzaust, aber es schien ihn nicht zu stören. Eher wirkte er abwesend.
"Papa konnte den Mord nur verarbeiten, wenn er den Mörder tatsächlich fand. Dieses Bedürfnis stellte er sogar noch vor seine Familie, er unternahm kaum etwas mit Mama und mir. Davor war es meine Mutter gewesen, die sich von den anderen isoliert hatte, nun tat er es. Ich weiß nicht, ob er geahnt hat, dass er nicht fündig werden würde.
Die Zeit, die er mit der Suche verbrachte, dehnte sich immer mehr aus, manchmal kam er erst spät in der Nacht nach Hause", sagte ich. "Doch trotzdem konnte er Yasmins Mörder nicht finden."
Bevor ich fortfuhr, atmete ich ein paar Mal tief ein und aus. Der Geruch nach Erde beruhigte mich und ich entspannte mich ein wenig. Ein Vogel flog dicht über uns hinweg und segelte die kleine Schlucht hinunter.
Mein Herz klopfte laut und ich tastete nach dem Puls an meinem Handgelenk. "Der Gedanke daran, dass all seine Anstrengungen umsonst gewesen waren, muss ihn zermürbt haben. Sein Ziel, das er sich gesetzt hatte, hatte er zwei Jahre nach Yasmins Beerdigung nicht erreicht. Für ihn war es wie ein weiterer Schlag ins Gesicht. Zumindest erkläre ich es mir so. Im Mai vor vierzehn Jahren hat er sich hier das Leben genommen."

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