Prolog

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Dieser Schrei. Eine Mischung aus Schmerz und nackter Angst. Egal auf wie viele Missionen ich noch geschickt werden würde, egal wie oft ich noch in der Dunkelheit jagen musste, alle Sinne bis zum Zerreißen gespannt und mit dem Tod nie weit entfernt, diesen Schrei würde ich niemals vergessen.

Es dauerte einige Sekunden bis ich verstand, dass das Ben gewesen sein musste. Wo war er? Und warum war es so verdammt dunkel?

Ich wollte seinen Namen rufen, aber wir beide hatten bessere Überlebenschancen, wenn es nicht wusste, dass ich auch hier war.

Ich zwang mich ganz still zu stehen und nach irgendeinem Geräusch von Ben zu horchen. Die Dunkelheit presste von allen Seiten auf mich ein und es war plötzlich totenstill geworden.

Mein Herz schlug so wild, dass ich nichts Anderes hören konnte, als das Rauschen meines Bluts in meinen Ohren und mein eigenes, verzweifeltes Atmen. Keine Chance.

„Ben?"

Obwohl ich nur flüsterte, zerschnitt meine Stimme die Dunkelheit. Keine Antwort.

Wo verdammt noch mal war Finn? Wir hätten uns nie trennen dürfen.

Ich hetzte so schnell es ging durch die Dunkelheit, vorbei an Bücherregalen, zerfletterten Papieren und umgekippten Stühlen. Meine schweren Schuhe hallten auf dem nackten Betonboden wieder. Der Geruch nach alten Büchern wurde immer unerträglicher. Ich hielt mir meinen Arm vor die Nase und versuchte nicht zu Atmen. Der Gestank konnte nur eins bedeuten: Tod. Ich versuchte, die aufkommende Panik zu bekämpfen. Wenn ich doch nur besser sehen könnte. In meiner Panik rannte ich gegen einen großen, schweren Tisch. Die Kante rammte sich schmerzhaft in meinen Magen und für eine Sekunde blieb mir die Luft weg.

Da war er wieder! Der Schrei! Dieses Mal viel näher, nur ein wenig vor mir. Ich rannte los und warf mein Messer ohne zu zögern in die Dunkelheit.

Mein Training zahlte sich aus. Ich hörte einen kurzen Schrei, ganz anders als die beiden zuvor und den befriedigenden Klang meines Messers, das auf den Boden fiel. Was immer ich getroffen hatte, war jetzt verschwunden. Dann, ohne Warnung, flackerten die Lichter wieder an und ich sah ihn.

Ich fiel zurück, prallte hart auf den Boden und schrie bis ich dachte, dass meine Lungen platzen mussten. Plötzlich schlossen sich zwei kräftige Arme um mich. Jemand zog mich an sich und hielt mich fest. Erst viel später wurde mir klar, dass das Finn gewesen sein musste. Außer uns beiden war niemand sonst mehr hier. Finn hatte ihn auch gesehen, aber er sprach nie darüber.

Wir sprachen nie darüber.

„Elliot! Steh AUF!"

Finn zog mich hoch und weg von Ben. Ich sah die Metallbox auf dem Boden neben ihm und wusste, dass wir in Sicherheit waren, aber was bedeutete das schon noch?

Seitdem sah ich Ben jede Nacht.

Ich hatte vorher nie Albträume gehabt, aber, wenn man sah was wirklich geschehen war, war es kein echter Albtraum, oder? Eher ein grausamer Film, der immer wieder von vorne begann und von dem ich nicht entkommen konnte.

Ben ist in einer Bibliothek gestorben, wie wir alle wahrscheinlich früher oder später. Und obwohl ich wusste, dass ein Happy End nicht wirklich auf irgendeinen von uns wartete, hatte sein Tod mich schwer getroffen. Wir waren Freunde gewesen. Und es war nicht leicht Freunde zu finden, wenn du ständig aufpassen musstest, dass du nicht mit einem Messer im Rücken endest. Oder etwas noch Schlimmeres.

Und jetzt hatte er Finn und mich alleine zurückgelassen.

Die flüsternde BibliothekWo Geschichten leben. Entdecke jetzt