Kapitel 35

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Ich presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Der letzte Satz brannte auf meiner Zunge. Es tat weh, mich ihn aussprechen zu hören.
Einen Moment später spürte ich, wie Tristan einen Arm um mich legte. Seine Wärme umhüllte mich und ich sah ihn an. Er schaute noch immer in die Ferne.
"Nichts hat er uns hinterlassen. Kein Testament, keinen Abschiedsbrief, einfach nichts. Von einem Tag auf den anderen war er plötzlich auch weg", flüsterte ich so leise, dass meine Stimme beinahe vom Klang des Wassers übertönt wurde. Meine Augen begannen, zu brennen. "Niemand konnte mir erklären, warum er das getan hat. Dass er es nicht verkraftet hat, Yasmins Mörder nicht gefunden zu haben, ist nur meine Überlegung. Welchen Grund sollte er sonst gehabt haben?"
Sofort musste ich an den Liebesbrief denken, den ich bei David in den Händen gehalten hatte. Er hatte meine Mutter und mich doch geliebt, oder? Wir waren doch das Einzige, das ihm geblieben war. Nichts hatte zwischen uns gestanden, auch nicht ein anderer Mann. Doch wieso hatte er sich dann hier von der Brücke gestürzt?
"Man hat seine Leiche da unten gefunden und man ging von einem Selbstmord aus", sagte ich und sah von der Brücke hinunter. Hatte mein Vater gezögert, bevor er sich hier hinuntergestürzt hatte? "Das hat meine Mutter wieder aus der Bahn geworfen. Ihr normales Leben, das sie sich wieder aufgebaut hatte, brach erneut zusammen. Etwas Schlimmeres hätte ihr in jener Zeit wahrscheinlich nicht passieren können."
"Es muss sie zerstört haben", meinte Tristan und ich nickte stumm.
"Deshalb sind wir fast ein Jahr später weggezogen. Meine Mutter hat es nicht mehr ertragen, in der Umgebung zu leben, wo zwei ihrer liebsten Menschen gestorben sind. Sie sagt oft, dass das Dorf ihr Unglück gebracht hat und dass sie nie wieder dorthin möchte. Deshalb weigert sie sich, das Dorf zu betreten", erzählte ich weiter. Jedes Mal, wenn Mama mich zu meinen Großeltern fuhr, hielt sie direkt vor dem Ortsschild. Noch nie hatte ich sie dazu bringen können, auch nur einen Meter weiterzufahren.
Nachdenklich blickte Tristan auf den Fluss hinunter. "Das Dorf scheint ihr wirklich Unglück gebracht zu haben."
"Danach hat sie auch die meisten Kontakte abgebrochen. Aber vor ein paar Monaten ist sie wieder zum Klassentreffen gegangen, allerdings hat es mir meine gesamten Überredungskünste abverlangt", meinte ich.
"Weißt du, was ich mich frage?" Tristan drehte sich zu mir um und der Blick aus seinen blauen Augen traf mich unvermittelt.
"Was?"
"Ob das tatsächlich der einzige Grund war, warum sich dein Vater das Leben genommen hat. Könnte es nicht sein, dass deine Mutter sich während seiner Suche David zugewendet hat? Vielleicht hat sie ja bei ihm Trost gesucht", begann Tristan.
"Niemals!", rief ich aus und starrte ihn entgeistert an. "Mein Vater war die große und einzige Liebe meiner Mutter! Das hätte sie wirklich niemals getan!"
Voller Empörung stemmte ich die Hände in die Seiten und schnappte nach Luft. Dass mein Vater Mama und mich auf diese Art und Weise verlassen hatte, war bereits schrecklich genug, doch dass sich meine Eltern nicht mehr geliebt haben sollten, war absolut undenkbar. Mein Gehirn protestierte dagegen, das auch nur ansatzweise in Verbindung zu bringen.
Beschwichtigend hob Tristan die Hände. "Es war ja nur eine Überlegung."
Ich wollte nicht zugeben, dass ich auch schon einmal an etwas Ähnliches gedacht hatte. Aber ich klammerte mich an meine Theorie. Dass meine damalige Welt noch weiter zerbrach, würde ich auf keinen Fall zulassen.
Außerdem merkte ich oft genug, wie sehr Mama ihren Mann vermisste und ich war mir sicher, dass sie nie jemand anderen geliebt hatte. Dieser Gedanke war seit meiner Kindheit tief in meinem Kopf verankert und aus dem Glauben hatte ich oft neue Kraft geschöpft.
Schweigend standen Tristan und ich nebeneinander, den Blick in den Abgrund gerichtet. Ich wollte nichts mehr sagen, ich hatte genug gesprochen. Unauffällig fuhr ich mir mit der Hand über die Augen. Die Ungewissheit, warum mein Vater den Tod gewählt hatte, schmerzte.
Schließlich räusperte sich Tristan. "Danke, dass du mir das erzählt hast."
Vorher hätte er sich ohnehin nicht zufrieden gegeben. Mein Vater war normalerweise ein Thema, über das ich sonst nie sprach. Jeder, der damals dabei gewesen war, mied Unterhaltungen über ihn. Er war ein Rätsel und keiner traute sich nach Yasmins Tod, Vermutungen über den Grund seines Suizids aufzustellen. Die meisten taten es aus Souveränität und weil sie Mitleid mit meiner Familie hatten, die schon zwei solcher Schicksalsschläge hatte hinnehmen müssen. Aber ich hatte auch gehört, dass vereinzelt gesagt wurde, dass mein Vater damit die Geschichte des Dorfes und meiner Familie beschmutzt hätte. Allein der Gedanke reichte, um mich wütend zu machen.
Als ich ein weiteres Mal zum Fluss hinabsah, wurde ich von einem plötzlichen Schwindelgefühl erfasst und ich wandte mich ab. Ich ertrug es nicht länger, hier zu stehen und über meinen Vater zu reden.
"Lass uns gehen", meinte ich und es klang eher wie eine Aufforderung, nicht wie ein Vorschlag.
Still liefen wir hintereinander her und ich dachte daran, dass dies der letzte Weg war, auf dem mein Vater gelaufen war. Was hatte er dabei wohl gefühlt? Hatte er Bilder seiner Familie im Kopf gehabt? War er traurig gewesen? Oder hatte er seinem Leben einfach nur noch einen Schlussstrich setzen wollen?
Ich hasste es, mir diese Fragen zu stellen, doch sie entstanden von ganz alleine in meinem Kopf. Mein Vater war tot und ich wollte dieses Ereignis mit dem Gedanken annehmen, dass er seine Familie geliebt hatte. Dass er nur nicht mit Yasmins Tod hatte zurechtkommen können. Es war die einfachste, logischste und schmerzloseste Erklärung.
Hinter mir hörte ich Tristans leisen Atem und je weiter wir uns von der Schlucht entfernten, desto wohler wurde mir wieder. Hoffentlich begann Tristan nicht, eigene Theorien für den Selbstmord aufzustellen. Es wäre respektlos, Papa nach seinem Tod noch etwas Falsches anzuhängen und Gerüchte zu verbreiten. Jeder respektierte das und redete nicht darüber.
Erneut versuchte ich, mich nur auf meinen Atem zu konzentrieren, um meinen Kopf zur Ruhe kommen zu lassen. Doch als wir den Waldrand erreichten, war es damit sofort wieder vorbei. Jemand hatte die Luft aus den Reifen unserer Fahrräder herausgelassen.

"Isabelle, es ist Post für dich gekommen", begrüßte mich Oma am nächsten Tag, als ich nachmittags von Tristan zurückkehrte. Wir hatten uns verabredet, um noch einmal über seine Verdächtigungen zu sprechen. Dass Merle unschuldig war, hatte für mich nicht zur Diskussion gestanden. Sie war eine der engsten Freundinnen meiner Mutter gewesen und ich glaubte nicht, dass man Emotionen so überzeugend spielen konnte. Als sie vorgestern mit mir geweint hatte, hatte ich schon gewusst, dass man sie getrost aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen konnte.
Tristan hatte mir einen langen Vortrag über alle Personen gehalten, die den Mord theoretisch begangen haben könnten. Es war mir erschienen, als hätte er das halbe Dorf aufgezählt. Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört und nur ab und zu genickt oder etwas Zustimmendes von mir gegeben.
Am Ende waren wir schließlich zu dem Schluss gekommen, dass David das stärkste Motiv hatte. Außerdem hatte Tristan nicht aufgehört, mir ständig den Liebesbrief unter die Nase zu halten. Dieser war für ihn der ausschlaggebende Beweis für seine Theorie.
Neugierig nahm ich den Briefumschlag entgegen und drehte ihn herum. "Danke. Weißt du, von wem er stammt?"
Oma hob die Schultern und band sich die Schürze enger um die Hüften. Im ganzen Haus roch es nach Kuchen und mir lief das Wasser im Mund zusammen. "Nein, der Postbote hat ihn zusammen mit den anderen Briefen gebracht."
Vielleicht stammte er von Mama. Sie schrieb mir manchmal Briefe, während ich hier war. Ich stieg die Treppe zu dem Zimmer unter dem Dachboden hinauf. Auf dem Boden neben dem Bett lag noch immer Tristans graue Mappe, die ich ihm bald zurückgeben sollte. Irgendwie hatte ich die übrigen Artikel doch nicht mehr gelesen.
Zuerst versuchte ich, den Umschlag vorsichtig zu öffnen, doch dann riss ich ihn einfach auf. Im Inneren steckte ein weißer Briefbogen, den ich mit spitzen Fingern herauszog, um ihn nicht zu verknittern. Neugierig faltete ich ihn auf und mein Herz hörte für einen Moment auf, zu schlagen. Mit dickem, schwarzen Stift hatte jemand in Großbuchstaben geschrieben: HÖR AUF!
Meine Finger zitterten leicht, als ich das Blatt zur Seite legte. Eine weitere Warnung.
Sofort musste ich an die platten Reifen und den wahnsinnigen Autofahrer denken. Egal, wie Tristan diese Ereignisse zu erklären versuchte: Für mich waren beides deutliche Botschaften, unsere Suche zu beenden. Erst hatte man uns unterschwellig durch den Ball dazu bringen wollen, doch nun wurde diese harsche Aufforderung verbal.
Ich setzte mich aufs Bett und rutschte an die Wand heran, um mich an etwas anzulehnen. Für einen Augenblick schloss ich die Augen und hoffte, dass ich nur träumte und den Brief nie erhalten hatte. Aber als ich sie wieder öffnete, lag er noch immer da.
Von wem stammte diese Nachricht? Es stand kein Absender auf dem Umschlag. Anhand der sauberen Druckbuchstaben, die man bestimmt mit Lineal gezeichnet hatte, konnte man die Schrift niemandem zuordnen. Stammte sie tatsächlich vom Mörder selbst?
Alles würde dafür sprechen. Er war derjenige, der das größte Interesse daran hätte, wenn wir aufhören würden, nach ihm zu suchen. Und er scheute vor nichts zurück. Das hatten wir gestern hautnah zu spüren bekommen, als man uns fast umgefahren hätte. Natürlich könnte der Fahrer auch lediglich ein Raser sein, der mit allem nichts zu tun hatte. Doch in dieser Situation glaubte ich nicht an Zufälle.
Die platten Reifen waren meiner Meinung nach ebenfalls ein weiterer Schritt, uns klarzumachen, dass wir unsere Finger von dem Mord lassen sollten. Man wollte uns stoppen, indem man uns verängstigte.
Zugegeben, ich fürchtete mich wirklich. Im Gegensatz zu Tristan glaubte ich nicht an eine Aneinanderreihung von Zufällen, die nichts damit zu tun hatten. Bis tief in die Nacht hatten mich die Gedanken an meinen Vater und das Auto nicht losgelassen. Gestern hatten wir das erste Mal wirklich zu spüren bekommen, wie gefährlich es werden konnte, wenn wir nicht genug Acht gaben.
Ich umschlang meine Beine mit den Armen. Die Zweifel, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, waren zu einem ständigen Begleiter geworden, seitdem ich den Ball gefunden hatte. Tief in mir spürte ich die Angst, die mit jedem Gedanken an den Mörder wuchs.

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