Kapitel 36

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Wozu war er fähig? Wie weit würde er gehen, um unerkannt zu bleiben? Dass er keine Gewalt scheute, hatten wir inzwischen am eigenen Leib erfahren. Auch wenn Tristan mir in diesem Punkt nicht zustimmte.
Oma und Opa durften auf keinen Fall davon erfahren. Sie würden mir ansonsten wahrscheinlich verbieten, das Haus zu verlassen, weil sie sich so Sorgen machten. Angesichts der Ereignisse der letzten zwei Tage könnte ich das auch gut nachvollziehen.
Doch was war mit Tristan? Hatte er einen ähnlichen Brief erhalten? Oder nur ich? Dass ich den Ball gefunden hatte, war logisch, schließlich konnte Tristan ihn gar nicht kennen und hätte die Botschaft dahinter nicht verstanden.
Ich stand auf und nahm den Brief noch einmal in die Hand. Die Linien der Buchstaben waren alle gerade, ebenmäßig und parallel. Hier musste jemand wirklich sehr genau gearbeitet haben. Das Papier fühlte sich dick an und man konnte den schwarzen Stift von der Außenseite her nicht sehen, obwohl die Schrift sehr dick war.
Es gab keinen Anhaltspunkt, der mich darauf schließen lassen könnte, von wem die Nachricht stammte. Nicht einmal ein winziger Fleck war zu sehen. Derjenige war wirklich ziemlich gründlich vorgegangen und hatte offensichtlich darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen.
Ratlos faltete ich das Blatt zusammen und steckte es in den kaputten Umschlag zurück. Die Adresse hatte man mit dem Computer geschrieben.
Dieses Handeln, alles zu vermeiden, was auf ihn hindeuten könnte, passte zu dem Mörder. Jahrelang hatte er es geschafft, nicht gefasst zu werden und sogar die Polizei hatte sich an ihm die Zähne ausgebissen. Sein Vorgehen musste makellos sein, ansonsten hätte man ihn längst entdeckt. Und er musste schlau sein.
Beinahe jeder im Dorf war damals verhört worden, wahrscheinlich also auch der Mörder selbst. Und doch hatte man ihn nicht gefunden.
Ich legte den Briefumschlag in die graue Mappe. So bald wie möglich musste ich mit Tristan reden und ihm von dem Brief erzählen. Dann würde ich auch mit ihm besprechen, ob wir tatsächlich mit der Suche fortfahren oder sie lieber abbrechen sollten.
Aber bereits jetzt wusste ich, dass Tristan sich nicht von seinem Plan abbringen lassen würde. Er war bereit, Risiken einzugehen.
Doch was riskierten wir, wenn wir nicht aufhörten? Ich war nur noch eineinhalb Wochen hier, aber Tristan würde sich mit seinem Vorhaben großer Gefahr aussetzen. Das machte mir Sorgen und ich fühlte mich wieder einmal schuldig, weil ich mich in Volkers Gegenwart verplappert hatte. Dafür könnte ich mich immer noch selbst ohrfeigen.
Schnell faltete ich den Umschlag ein weiteres Mal zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. Je eher Tristan davon erfuhr, desto besser.
"Oma, ich gehe zu Tristan!", rief ich.
Gerade als ich die Türklinke schon in der Hand hatte, trat meine Großmutter aus der Küche. "Schon wieder?"
"Ja, ich habe etwas bei ihm vergessen", log ich und verzog bedauernd das Gesicht.
"Wann bist du wieder zurück?", fragte sie und seufzte. Prompt tat es mir Leid, ihr eine kleine Notlüge aufgetischt zu haben.
"Spätestens zum Abendessen", erwiderte ich und hoffte, dass sie nichts dagegen einzuwenden hatte. Meine Großeltern legten normalerweise viel Wert darauf, Mittag- und Abendessen gemeinsam einzunehmen.
"Na gut", antwortete sie und zwinkerte mir kurz zu, bevor sie wieder in der Küche verschwand.
Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich schlüpfte ins Freie hinaus, bevor sie mich zurückrufen konnte. Zum Glück hatte sie mir keine weiteren Fragen gestellt, ansonsten hätte ich mich wahrscheinlich irgendwann in meinen eigenen Lügen verstrickt.
Ich sprang regelrecht auf das alte Damenfahrrad und trat in die Pedale, als ginge es um den Titel bei der Tour de France. Mit einer Vollbremsung hielt ich vor der kleinen Kneipe. Aus dem Inneren hörte ich bereits Stimmen.
Als ich die Gaststätte betrat, wäre ich am liebsten im Boden versunken. In der Mitte standen Uwe und Volker und starrten mich an. Ihre Blicke huschten unruhig umher, als habe ich sie eben bei etwas Verbotenem erwischt. Sie wechseltn noch ein paar Worte miteinander, die ich nicht verstehen konnte. Dann schlurfte Volker zu einem Tisch in der Ecke, wo bereits ein halbleeres Bierglas stand.
"Was willst du, Isa?" Uwe klang unfreundlich, aber ich versuchte, es zu ignorieren.
"Zu Tristan", sagte ich.
Einen Moment später tauchte Tristan hinter seinem Gastvater auf. Seine Augen musterten mich. "Was ist los?"
"Ich habe vorhin etwas vergessen", erwiderte ich und hoffte, dass Tristan verstand, dass ich mit ihm alleine sprechen wollte. Schließlich konnte ich es mir nicht leisten, noch einmal etwas Falsches zu sagen. Uwe zog die Augenbrauen hoch und sah mich schief an.
"Kein Problem, komm' einfach kurz mit nach oben", meinte Tristan und winkte mich zu sich.
Ohne die Männer anzuschauen, verließ ich mit ihm den Schankraum und lief ihm hinterher. Erleichtert atmete ich auf und zog bereits im Gehen den Brief aus meiner Hosentasche.
Sobald ich Tristans Zimmer betreten hatte, schloss ich die Tür und hielt ihm wortlos den Umschlag entgegen. Ohne etwas zu sagen, nahm er ihn entgegen und zog das Papier heraus. Als er die Worte las, weiteten sich seine Augen.
"Wann hast du das bekommen?", fragte er mich und Fassungslosigkeit spiegelte sich in jedem seiner Gesichtszüge wider.
"Oma hat ihn mir gegeben, nachdem ich zu Hause angekommen bin."
"Hat sie ihn gelesen?"
"Nein."
"Zum Glück. Das hätte uns gerade noch gefehlt", bemerkte Tristan und kaute auf seiner Unterlippe herum.
"Hat dir auch jemand einen Brief geschrieben?", erkundigte ich mich und spürte, wie mein Herz schneller schlug.
Einen Moment lang verharrte Tristan. "Ich weiß es nicht, Uwe leert den Briefkasten nicht so häufig", gab er zurück und schaute mir in die Augen. "Aber falls ja, darf er ihn auf keinen Fall sehen!"
Im selben Augenblick drehten wir uns um und stürmten die Treppe hinunter. Hoffentlich hatte Uwe den Brief noch nicht bemerkt, falls man Tristan ebenfalls einen geschickt hatte. Unten angelte Tristan nach einem kleinen Schlüssel in einer Schale, bevor er das Haus verließ, ihn in den Briefkasten steckte und die Post herausnahm. Mit flinken Fingern durchsuchte er den Stapel und ich wartete mit einem merkwürdigen Kribbeln im Bauch. Mein Magen schien sich mit jedem neuen Brief, den Tristan beäugte, umzudrehen.
Schließlich zuckte Tristan mit den Schultern. "Nichts."
Doch in diesem Moment rutschte ein weißer Briefumschlag aus der Tageszeitung hinaus und segelte auf den Boden.
Wir starrten uns an und Tristan bückte sich langsam, um den Brief aufzuheben. Seine Finger zitterten kaum merklich und sein Gesicht kam mir etwas blasser vor als gewöhnlich.
Der Umschlag sah genauso aus wie der, den ich erhalten hatte. Blütenweiß, Name und Adresse mit Computer geschrieben. An der Ecke hatte er einen kleinen Knick, doch der war wohl der anderen Post zu verdanken.
Ich verschlang die Hände ineinander, um nicht nervös an meinen Haaren oder meinem T-Shirt herumzunesteln. Abwechselnd wurde mir heiß und kalt und auf meinen Armen hatten sich die feinen Härchen aufgestellt. Ob Tristan wohl dieselbe Nachricht bekommen hatte? Oder hatte sich derjenige für ihn etwas Anderes ausgedacht?
Wie in Zeitlupe riss Tristan den Umschlag auf. Der Verschluss musste selbstklebend sein, ansonsten hätte man ihn besser öffnen können. Man musste wirklich darauf geachtet haben, nicht die winzigste Spur zu hinterlassen.
Tristan sah mich noch einmal an. In seinen Augen stand Besorgnis. Soll ich wirklich?, schien er mir sagen zu wollen, doch er sprach es nicht laut aus.
Auf diese Frage hätte ich keine Antwort gehabt. Einerseits brannte ich darauf, den Inhalt des Briefes zu lesen, andererseits fürchtete ich mich vor der Botschaft darauf. Der Mörder war brutal, das stand außer Frage. Und ich traute ihm zu, dass er dem fest entschlossenen Tristan eine viel schrecklichere Mitteilung zukommen ließ.
Das Klopfen meines Herzens klang wie Paukenschläge. Es tönte in meinen Ohren und pochte in mir, als wolle es mich von innen zerreißen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Brustkorb jeden Moment zersprang.
Leicht nickte ich Tristan zu. Jede Sekunde wurde unerträglicher.
Unsicher blickte er auf den Umschlag und dann noch einmal zu mir, bevor er das Blatt schließlich herauszog. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Mein Mund stand offen und ich atmete flach.
Er faltete das Papier auseinander und ließ es sinken, sobald er den Inhalt gelesen hatte. Wortlos reichte er es mir.
Kurz zögerte ich, bevor ich danach griff. Dieselbe Schrift. HÖR AUF!

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt