Kapitel 3: Des Rätsels Lösung

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Madam Crawford war sich mittlerweile ganz sicher, dass sie entweder träumte, oder aber ein klassischer Fall von Altersschwachsinn geworden war. Während sie noch überlegte, ob letzteres bei vollem Bewusstsein dieser Tatsache überhaupt möglich war, betraten schon wieder neue Figuren die Bühne dieses kuriosen Theaters, zu welchem ihr Geist die Bibliothek – aus welchen Gründen auch immer - hatte werden lassen. Aus der Ecke mit dem Erlen-Schrank trat eine ebenso eindrucksvolle, wie auch beklemmende Gestalt, eingehüllt in einen Mantel, der aus Nebel zu bestehen schien. Auf dem Kopf der Gestalt saß eine golden schimmernde Krone, die jedoch den Eindruck machte, von Rost zerfressen zu sein.

Auch Gefolge brachte dieser düstere König mit sich; zwei Frauen, üppige Dirnen, in langen, fahlen Gewändern und mit ebenso langem, grauem Haar, das ihnen ungekämmt von den Köpfen hing.

Aus der gegenüberliegenden Ecke klang derweil das Lachen junger Mädchen hinüber. Leicht bekleidet und mit Pfeil und Bogen bewaffnet, als wären sie geradewegs einer griechischen Sage entstiegen, tanzten sie ausgelassen zwischen den Regalen.

Herrje, Madam Crawford konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann das letzte Mal so viele Leute, so viel Leben in diesem alten Gemäuer gewesen war.

Einige der Amazonen sahen argwöhnisch zu den geisterhaften Gestalten des Königs und seinem Gefolge hinüber, die sich nun schnurstracks und mit der Eleganz wallenden Nebels auf das Mädchen, das noch immer nach seinem Kaninchen suchte, zubewegten.

Die alte Dame vernahm einen Laut, als säusle der Wind in dürren Blättern, als der König das Mädchen erreichte und erst als das Kind antwortete, erkannte sie, dass es keineswegs der Wind, sondern die Stimme des Königs gewesen war. Wie Madam Crawford aus dem halben Gespräch heraushören konnte, wollte der Unhold aus Nebel das Kind wohl mit sich nehmen – weiß Gott zu welchem Zweck - und machte ihm allerhand Versprechungen; das Mädchen jedoch lehnte standhaft ab. Doch der unheimliche König bedrängte das arme Ding weiter, kam ihr immer näher, während sie sichtlich ängstlich zurückwich.

Gerade wollte die Gestalt sich auf das Mädchen stürzen, es mitnehmen und sei es auch mit Gewalt, da stand Madam Crawford auf.

»Nun ist aber wirklich genug!«, rief sie zutiefst verärgert.

Was auch immer der Grund für all das sein mochte, einem unschuldigen Kind etwas anzutun, das ging in jedem Fall zu weit!

Für einen Moment war die Szenerie wie erstarrt, aller Augen – selbst diejenigen des schaurigen Portraits wie es schien – waren auf die alte Frau gerichtet.

Wie von weit her erklang der Ruf »Nimmermehr!«, krächzend und heiser wie ein Rabenschrei und eilig verschwand alles Volk aus dem Raum, als habe ein plötzlicher Windstoß die Gestalten weggeweht. Die fantastischen und schaurigen Figuren flüchteten vor der wachen, nüchternen Realität, die sie schlafend geglaubt hatten, verschwanden zwischen Buchdeckeln, versteckten sich in den Seiten.

Alles, was blieb, waren die im fahlen Mondlicht geheimnisvoll schimmernden Titel auf den Buchrücken.

Und mit einem Mal wurde der Madam völlig klar, warum ihr all diese Gestalten so bekannt vorgekommen waren, ohne dass sie je einer von ihnen begegnet wäre. Es waren die Figuren aus den Büchern, die Mortimer und sie selbst hier angesammelt hatten.

Warum war ihr das nicht schon viel eher aufgefallen?

Hatte sie es vielleicht doch geahnt – sei es auch nur unbewusst - und einfach nicht wahrhaben wollen? Schließlich waren zum Leben erwachte Buchfiguren ganz und gar absurd.

Von der alten Dame und anderen GeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt