16 (TIM)

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Am Donnerstag kam Tim die zweite große Pause besonders lang vor. Immer wieder fielen ihm die Augen zu – er hatte die letzte Nacht kaum schlafen können. Seit ein paar Wochen wurde die Zeit zwischen den Unterrichtsstunden von den meisten Elftklässlern nicht mehr nur genutzt, um Musik zu hören, zu essen und mit Freunden zu reden; viele lernten, schliefen, machten Hausaufgaben (oder schrieben sie ab) und beschäftigten sich mit der Profilwahl. So war es auf dem Jahrgangsflur ziemlich leise, und die Stimmung war größtenteils angespannt. Die, die sich unterhielten, redeten größtenteils über die Profile, die sie für die Oberstufe wählen mussten. So entspannt das Leben eines Schülers in den letzten Tagen vor den Ferien sein mochte, so beschissen war es in der Phase davor. Es war einfach zu viel; Klausuren über Klausuren, zunehmend anspruchsvollere Hausaufgaben, und dann noch die Facharbeit in Deutsch. Dabei war die Deutschstunde, die sie gerade eben gehabt hatten, wirklich spannend gewesen. Sie beschäftigten sich jetzt mit dem Thema „Jugend" im Allgemeinen. Herr Ruge hatte vor Beginn der Stunde überall im Klassenraum DinA4-Blätter aufgehangen. Auf jedem Bogen Papier hatte eine andere Aussage gestanden. Es waren provozierend formulierte Behauptungen über die Jugend gewesen. „Jugendlichen geht es nur um Konsum", „Junge Leute sind unverschämt zu ihren Eltern", „Die Jugend ist unpolitisch." Nachdem die Klasse Zeit gehabt hatte, sich die Sätze durchzulesen, ging die offene Diskussion los. Waren die Vorurteile gerechtfertigt oder nicht? Wo kamen sie her? Für Sophie war das natürlich superpraktisch gewesen, schließlich war genau das ihr Facharbeitsthema. In dieser Stunde hatte Tim wieder einmal gemerkt, wie froh er war, die Freunde zu haben, die er hatte. Es war nicht schwierig gewesen zu bemerken, dass die meisten Klassenmitglieder ihre eigene Generation kaum reflektiert hatten, bis es eben gerade zu einer schulischen Aufgabenstellung geworden war. Beim besten Willen – er konnte sich nicht vorstellen, mit Menschen befreundet zu sein, die so schrecklich wenig nachdachten.

Er fing gerade an, sich zu fragen, wo eigentlich seine Freunde aus der A waren, da kamen Sam und Mikala schon in den Jahrgangsflur geschlendert. Stimmt, sie waren in den Musikräumen gewesen. Coco war nicht bei ihnen. Das wunderte Tim nicht; seitdem er am Anfang der Woche gefragt hatte, ob sie reden konnten, hatte er sie so gut wie gar nicht gesehen. Obwohl sie eingewilligt hatte, war sie nach Schulschluss schon verschwunden gewesen, bevor Tim die Klasse überhaupt verlassen konnte. Dienstag hatte sie in der dritten und vierten Stunde frei gehabt, sodass Coco zwischendurch nach Hause gefahren war. Indem sie gerade so pünktlich zum Unterricht erschienen war und als erste wieder weg war, hatte Tim sie auch da nicht erwischen können. Mittwoch war sie gar nicht erst gekommen, und heute auch nicht. Coco ignorierte seine Nachrichten und Vincent meinte, sie wäre wohl irgendwie krank. Ob das nun stimmte oder nicht – und Tim war ziemlich zuversichtlich, dass letzteres der Fall war – beschloss er, sie am Nachmittag zu besuchen.

Er rückte zur Seite, damit Sam noch mit auf das dreckigste und vollgeschriebenste Sofa des ganzen Jahrgangsflurs passte. Sie ließ sich in den alten, orangen Stoff fallen. „Was machst du da?", fragte sie an Gan gewandt, der konzentriert Notizen machte. „Ich stell mein Profil zusammen", antwortete er, und hob den Kopf.

„Oh, ich auch!", meldete sich Sophie zu Wort, die im Schneidersitz auf dem Boden saß und das Infoheft offen vor sich liegen hatte. „Welches nimmst du?"

Gan seufzte. „Ich weiß es nicht. Es gibt keinen Bereich, in dem ich besser bin als in den anderen."

„Ja", lachte Mikala, „weil du in allen gut bist. Was soll ich denn sagen?"

Am frühen Nachmittag schwang Tim sich auf sein Fahrrad, entschlossen, endlich mit Coco zu reden. Die ganze Situation belastete ihn. Das Auto, mit dem Robert Bellencontre meistens unterwegs war, wenn er nicht gerade von zuhause aus arbeitete, war nirgendwo zu sehen. Tim atmete erleichtert auf. Von Cocos Vater die Tür aufgemacht zu bekommen war etwas, auf das er ganz gut verzichten konnte. Es war dann Vincent, der einige Zeit, nachdem Tim geklingelt hatte, die Tür öffnete.

coco und coWo Geschichten leben. Entdecke jetzt