"Da war wohl jemand nicht sehr einfallsreich", versuchte ich, die Situation etwas aufzulockern, doch Tristan nahm keine Notiz davon. Seine Stirn hatte er in Falten gelegt, eine Hand in den Haaren vergraben, die andere hing schlaff hinunter. Nun sah selbst er etwas ratlos aus, obwohl er sonst so entschlossen und zielstrebig war.
Schweigend standen wir einander gegenüber im Flur, aus der Küche drang leises Töpfeklappern. Der Gang lag im Halbdunkeln und ich fühlte mich durch die Wände eingeengt und zu Boden gedrückt. Es roch leicht muffig, als ich tief ein- und ausatmete.
"Was jetzt?", fragte ich, nachdem lange niemand etwas gesagt hatte. "Willst du aufhören?"
"Wegen einer solchen Kleinigkeit?", entgegnete Tristan.
"Soll es etwa Verletzte geben, bis wir unsere Meinung ändern?", erwiderte ich sofort. "Der Raser gestern war doch erst der Anfang!"
Dieses Mal widersprach Tristan nicht. Anscheinend schien er nun ebenfalls genauer darüber nachzudenken, warum man uns gestern beinahe umgefahren hätte. Bisher hatte er beteuert, dass es nur jemand gewesen sei, dem es Spaß machte, andere zu verängstigen. Aber dass er nun schwieg, bereitete mir Sorgen.
"Vielleicht ist uns der Mörder wirklich näher, als wir bisher gedacht haben", murmelte Tristan und starrte auf den Teppich zu unseren Füßen.
Dieser Meinung war ich auch. Man musste uns perfekt abgepasst haben, damit wir überhaupt in diese Situation gelangen konnten. Entweder wir waren beobachtet worden oder man hatte davon gewusst, dass wir zum Wald gehen würden. Bei dem Gedanken lief mir ein Schauer den Rücken hinunter. Hatte der Mörder vielleicht tatsächlich gerade ein Auge auf uns und wartete nur darauf, uns einen Strich durch die Rechnung machen zu können?
Langsam hatten wir unter Umständen wirklich allen Anlass zur Sorge. Das Vorhaben entwickelte sich zum Katz-und-Maus-Spiel. Der Mörder war nicht mehr der Gejagte. Nun waren wir es.
Tristan nahm mir den Briefbogen aus der Hand und steckte ihn zusammen mit dem Umschlag ein. "Ich muss jetzt weiter in der Küche helfen und darüber nachdenken. Morgen sage ich dir dann, was ich machen werde."
Ohne jeglichen Gruß drehte er sich um und ließ mich alleine zurück.
Aber konnten wir uns diese Zeit tatsächlich leisten? Was, wenn es morgen schon zu spät war?
Schnell schob ich den Gedanken beiseite. Daran sollte ich am besten gar nicht denken, ansonsten würde ich mich damit selbst panisch machen.
Ich schaute mich noch einmal um, dann verließ ich das Haus und zog hinter mir die Tür zu. Mein Fahrrad stand immer noch an derselben Stelle wie vorhin und ich war froh, dass die Reifen nicht wieder platt waren. Bereits heute Morgen hatte ich sie wieder aufgepumpt.
Sollte ich jetzt schon zu meinen Großeltern zurückkehren? Im Moment spielten meine Gedanken verrückt und ich musste sie unbedingt ordnen. Zu Hause ging ich dann am liebsten eine Runde joggen, aber in der brütenden Hitze wollte ich das meinem Körper nicht antun.
Es half auch, sich jemandem anzuvertrauen. Aber hier hatte ich keinen Ansprechpartner. Meine Großeltern durften nichts davon erfahren, Tristan hatte dieselben Sorgen und brauchte Zeit für sich. Eigentlich blieb nur Christel. Doch für stundenlanges Reden fehlten mir die Nerven. Eine Viertelstunde mit jemandem über alles zu sprechen, würde mir schon reichen.
Als ich in Richtung Dorfrand fuhr, lenkte ich das Fahrrad zu den Feldern. Dort stellte ich es in einer Häusergasse ab und lief zu Yasmins Kreuz. Die Chance, mit ihr zu reden, hatte man mir schon lange genommen, aber es half mir trotzdem, mich zu beruhigen.
Ich ließ mich auf dem Gras davor nieder und schloss die Augen. Die Sonne brannte auf mich hinunter und feine Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Trotzdem ließ ich mich nicht beirren und versuchte, mich ganz auf mich selbst zu konzentrieren.
In den nächsten zehn Minuten saß ich vor dem Kreuz und reflektierte alles. Als ich schließlich aufstand, fühlte ich mich von der Last der Sorgen und Vorwürfe befreit. Es hatte etwas Tröstliches, bei der Gedenkstätte zu sein und die Anwesenheit meiner Schwester in mir zu spüren.
Ein paar Minuten lang blieb ich noch vor dem Kreuz stehen, betrachtete das Bild und murmelte ein kurzes Gebet. Bevor ich jedoch melancholisch werden konnte, machte ich kehrt und ging zu meinem Fahrrad zurück. Als ich um die Ecke bog, erschrak ich.
Vor meinem Fahrrad hatte jemand etwas mit giftgrünem Graffiti auf den Boden gesprüht. Wieder in Großbuchstaben. Doch dieses Mal war alles nicht so säuberlich geschrieben, es sah eher aus, als wäre derjenige in Eile gewesen.
Ich sah mich um und lauschte mit angehaltenem Atem. Doch nirgends entdeckte ich etwas. Niemand tauchte in meinem Blickfeld auf und ich hörte kein einziges Geräusch.
Mit der rechten Hand stützte ich mich an der Häuserwand ab. Meine Finger kribbelten vor Nervosität. Derjenige, der uns die Briefe geschickt hatte, musste eben noch hier gewesen sein. War ich so vertieft in meine Gedanken gewesen, dass ich nichts mitbekommen hatte?
ENDE, stand dieses Mal dort. Ein einzelnes Wort, von dem ich nicht genau wusste, wie ich es deuten sollte. Wollte man mir damit sagen, dass wir die Suche nach dem Mörder beenden sollten? Oder dass unser Ende bald gekommen war, wenn wir es nicht taten?
Unabhängig davon, welche Bedeutung es tatsächlich hatte, ließ es mich frösteln und ich hatte das Gefühl, dass sich meine Haut vor Kälte zusammenzog. Die dritte Warnung an einem einzigen Tag. Würde das ab jetzt an der Tagesordnung sein?
Hoffentlich nicht. Den Vorgeschmack darauf, dass auch derjenige vor Entschlossenheit strotzte, hatten wir nun bekommen. Er wollte uns um jeden Preis einen Strich durch die Rechnung machen. Und er war uns tatsächlich dicht auf den Fersen.
Noch einmal sah ich mich um. Wartete man vielleicht auf mich? Stand Yasmins Mörder unter Umständen direkt hinter der nächsten Ecke und passte den Moment ab, in dem ich an ihm vorbeikam? Schnell nahm ich mein Fahrrad und ging mit zügigen Schritten zurück zum Lavendelfeld.
Eine solche Begegnung musste ich um jeden Preis vermeiden, auch wenn ich dafür ein Mal um die ganzen Reihenhäuser fuhr. Noch einmal schaute ich zurück, doch bei der Häusergasse konnte ich niemanden erblicken.
Langsam bestieg ich das Fahrrad und setzte mich in Bewegung. Jeder Muskel in meinem Körper war angespannt und ich knirschte mit dem Kiefer. Ich hatte die Ohren gespitzt, aber ich vernahm keinen Laut. Doch als ich um die Ecke bog, sah ich den Ärmel einer schwarzen Lederjacke zwischen den Häusern verschwinden.
Sofort trat ich kräftig in die Pedale, die Hände um den Lenker geklammert. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Atem ging stoßweise. Das musste derjenige sein!
Aber als ich die kleine Gasse erreichte und absprang, war von der Person keine Spur mehr. Sie musste verdammt schnell gewesen sein, um innerhalb von einer handvoll Sekunden auf die andere Seite der Häuser zu gelangen.
So einfach gab ich mich jedoch nicht geschlagen. Im Rekordtempo sprintete ich hinterher, das Fahrrad ließ ich auf dem Bürgersteig liegen. Meine Füße schienen über den Boden zu fliegen und mein Puls schraubte sich rasant in die Höhe. Ich durfte denjenigen auf keinen Fall entkommen lassen!
Als ich wieder vor den Feldern stand, schaute ich mich hektisch um. Wo war er? Mit den Augen scannte ich meine Umgebung detailgenau ab, doch ich konnte niemanden entdecken.
Leise fluchte ich und begann, langsam in die Richtung des Spielplatzes zu gehen. Vielleicht erhoffte sich die Person die beste Deckung und versteckte sich dort. Allzu weit konnte sie nicht entfernt sein. Ihr waren nur wenige Sekunden geblieben, um sich rechtzeitig irgendwo zu verbergen.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich den gesamten Spielplatz nach einem Anzeichen desjenigen ab, der die Botschaft in der Gasse hinterlassen hatte. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich entdeckte nicht einmal ein Blatt, das sich auffällig bewegte, geschweige denn die Spur einer schwarzen Lederjacke.
Mein Bauchgefühl sagte mir aber, dass jemand direkt in meiner Nähe war. Das beunruhigte mich und bei jedem Schritt, den ich machte, ließ ich meine Umgebung nicht aus den Augen.
Ich schob die Äste der Haselnusssträucher auseinander, in der Hoffnung, dass sich dort jemand versteckte. Aber niemand saß dort. Nur eine aufgescheuchte Amsel flatterte davon.
Gerade als ich weitere Äste zur Seite bog, vernahm ich plötzlich eilige Schritte auf der Straße. Ich wollte mich umdrehen, doch meine Haare verhakten sich in dem Busch. Als ich daran zerrte und mich losriss, sah ich jedoch nichts mehr, nur noch den Zipfel einer schwarzen Jacke zwischen den Häusern.
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Lavendelblütenmord
Mystery / ThrillerWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...