Kapitel 38

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Laut fluchte ich auf, versuchte dieses Mal jedoch nicht mehr, die Verfolgung aufzunehmen. Diesen Vorsprung würde ich ohnehin nicht mehr einholen können.
Ich blieb stehen und stampfte wütend auf. Die Person musste sich in einem der Häusergärten versteckt haben, ansonsten hätte ich sie mit Sicherheit entdeckt. Warum hatte ich dort nicht genauer hingeschaut, sondern nur auf die Straße, die Felder und den Spielplatz geachtet. Es ärgerte mich so sehr, dass ich mir am liebsten eine Ohrfeige verpassen würde.
Resigniert ließ ich mich auf der Holzbank nieder und starrte die große Eiche neben der Schaukel bitterböse an. Die Hände hatte ich zu Fäusten geballt und ich knirschte mit den Zähnen.
Dies war wirklich eine einmalige Chance gewesen, denjenigen zu sehen und herauszufinden, wer hinter den Nachrichten steckte. Doch ich hatte sie mir einfach entgehen lassen. Wütend kickte ich ein Stück Holz weg.
Nur ein paar Meter hatten mich von dem potentiellen Mörder getrennt, nur um ein paar Wimpernschläge hatte ich ihn verpasst. Einerseits hatte dies durchaus seine positiven Seiten. Wer wusste schließlich, was passiert wäre, wenn ich ihm gegenüber gestanden hätte? Andererseits hätte sich das Rätsel um den Mord an meiner Schwester vom einen auf den anderen Schlag plötzlich gelöst.
Da hörte ich auf einmal einen Motor anspringen und ich setzte mich kerzengerade hin. Ob der SUV in der Straße gestanden hatte, darauf hatte ich gar nicht geachtet. Die Motorengeräusche entfernten sich und ich versuchte mit aller Kraft, mich an den Moment zu erinnern, als ich die Straße entlang gefahren war. Aber so sehr ich mich auch anstrengte, vor meinem inneren Auge tauchten keine Bilder auf.
Verzweifelt fuhr ich mir durch die Locken. Hätte ich nicht zumindest darauf achten können? Dann hätten wir immerhin Gewissheit gehabt, ob der Raser und die Botschaften irgendwie zusammenhingen. Ein Autofan hätte vermutlich am Ton des Motors ausmachen können, um welches Modell es sich handelte. Doch ich konnte nicht einmal die Marken besonders gut auseinander halten.
Diese einmalige Möglichkeit, die sich mir geboten hatte, hatte ich definitiv nicht genutzt.
Bevor ich aufstand, kickte ich erneut ein Stück Holz weg. Tristan würde sich sicherlich auch ziemlich ärgern, sobald ich ihm von dem Graffiti und der kleinen Verfolgung berichtete. Bestimmt hätte er den Mörder noch gesehen. In solchen Momenten waren lange Haare wirklich ein Fluch.
Ich stapfte zurück zu meinem Fahrrad, das genau so auf dem Boden lag, wie ich es zurückgelassen hatte. Immerhin hatte derjenige sich nicht getraut, noch einmal die Luft aus den Reifen zu lassen oder es gar mitzunehmen.
Grimmig hob ich es auf und fuhr die wenigen Straßen zu dem Haus meiner Großeltern zurück. Bevor ich jedoch an der Tür klingelte, entspannte ich meine Gesichtszüge wieder und zog ein paar Grimassen. Meine Oma öffnete mir. "Du bist ja schon wieder da!" Sie klang überrascht. Anscheinend hatte sie damit gerechnet, dass ich erst kurz vor dem Abendessen wieder auftauchen würde.
"Ja, wir haben nur noch ein bisschen geredet", erwiderte ich gekünstelt fröhlich. Es wurmte mich, dass ich die Person hatte entkommen lassen.
"Wirklich schön, dass ihr euch so gut versteht. Wir können auch früher essen, ich habe alles vorbereitet. Könntest du deinem Opa kurz Bescheid sagen? Er ist im Keller", meinte Oma und tätschelte mir die Wange.
Ich rang mir ein Lächeln ab und nickte. "Na klar."
Mit diesen Worten stieg ich die Steintreppe hinunter. Die Kühle des Kellers erfrischte meine schweißnasse Haut und ich blieb einen Augenblick lang stehen, um die angenehme Temperatur zu genießen. Nachdem ich bei der Hitze gesprintet war, klebten mir ein paar Haare im Nacken und ich hob sie hoch, um auch meinen Hals etwas abzukühlen.
Dann klopfte ich an der dunklen Holztür und betrat das Zimmer. An allen Wänden standen Bücherregale, die von oben bis unten mit Büchern und Ordnern vollgestopft waren. Opa saß am Schreibtisch, neben ihm ein Stapel Briefumschläge und Stifte. Als ich eintrat, blickte er von dem Buch auf, in das er vertieft gewesen war und sah mich über seine Lesebrille hinweg an.
"Es gibt Essen", sagte ich und verließ den Raum wieder, sobald er genickt hatte. Das hier war sein eigenes, kleines Reich und er mochte keine Störungen. Deshalb ging ich schnell wieder nach oben, in Gedanken noch immer bei der Person mit der schwarzen Lederjacke.

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt