Ich liebte die Physik. Das merkte ich immer wieder, wenn ich den monoton vorgetragenen Worten von Mr. Callahan lauschte. Ein paar meiner Kommilitonen stützten ihre Köpfe mit ihren Händen ab oder hatten den Kampf gegen die Trägheit der Langeweile schon aufgegeben, lagen halb auf den Bänken und kämpften mehr oder minder bemüht gegen den Schlaf. Nicht so ich, denn egal, mit wie viel Monotonie in seiner Stimme der alte Dozent mit Fachwissen um sich schlug, es faszinierte mich. Wenn ich je etwas geliebt hatte, dann war es Physik. Also behielt ich meine Konzentration bei mir und fertigte eifrig meine Skripte, während ich der kratzigen, aber immer noch bemühten Stimme lauschte. Mein Dozent war nicht wie in vielen Hollywoodfilmen oder Büchern ein junger, attraktiver Kerl, der haufenweise seiner Studentinnen abschleppte. Nein, er kratzte an der Grenze zu siebzig Jahren und machte seinen Job hier nur noch, weil er ihn liebte. Ich bewunderte den Mann dafür. Er wusste ganz genau, dass mindestens die Hälfte der Studenten in diesem Raum ihm nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte, die er meiner Meinung nach verdient hätte. Aber er machte seinen Job trotzdem. Auf Nachfrage von mir hatte er einmal gesagt, dass er vorhatte, das so lange weiterzumachen, bis er tot umfiel. Ich war mir sicher, er hatte es als Scherz gemeint, aber wir beide wussten, dass es eigentlich keiner war. Nicht wirklich zumindest.
Nach der Vorlesung, die geschlagene drei Stunden gedauert hatte, ging ich als letzte aus dem Hörsaal. Ich hatte noch einige Fragen zu diesem und jenem Thema gehabt und Mr. Callahan hatte sie alle geduldig und mit einem Lächeln im Gesicht beantwortet. Ich vermutete, genau das war sein Antrieb. Junge Menschen, die sich tatsächlich für sein Wissen interessierten und dieselbe Leidenschaft teilten.
"Das hat ja lange gedauert. Es ist immerhin schon kurz vor zwölf.", holte mich Lunas Stimme aus meinen Gedanken in die Gegenwart. Ich schloss die Tür des Raumes hinter mir, da ich wusste, der alte Dozent würde noch ein Weilchen seine heute benötigten Schriften sortieren.
Geräuschvoll biss Luna in einen Apfel. Sie saß auf der anderen Seite des schmucklosen Ganges unter einem geöffneten Fenster mit lang ausgestreckten, überkreuzten Beinen und schaute erwartungsvoll zu mir auf. Ich zuckte nur die Schultern, denn was sollte ich auf ihre Feststellung schon großartig antworten?
Stattdessen fragte ich sie: "Warum bist du nicht in der Cafeteria geblieben?"
Jetzt war sie an der Reihe, die Schultern zu zucken.
"Es war mir da zu langweilig, weißt du?"
"Aber hier auf dem Flur nicht?", merkte ich zweifelnd an und erntete nur einen missmutigen Blick. Beide mussten wir daraufhin grinsen.
Ich schulterte meinen Rucksack, in dem sich abgesehen von meinem Lehrbuch, meinem Notizblock und Schreibutensilien nicht viel mehr befand und setzte mich gemeinsam mit Luna in Bewegung. Ich mochte diese Täschchen oder Beutelchen nicht, die viele meiner Kommilitoninnen benutzten. Das Tragen schwerer Bücher auf nur einer Schulter ging mir auf Dauer auf den Keks. Ein Rucksack war da meiner Meinung nach sehr viel praktischer und unkomplizierter, auch wenn ich mit meinem heißgeliebten, aber ausladenden Exemplar wenig feminin erschien.
Erst, als ich fast die Treppe erreicht hatte, die nach unten führte, merkte ich, dass Luna wenige Schritte hinter mir stehen geblieben war. Sie rieb sich die Stirn als wenn sie Kopfschmerzen hätte. Gerade, als ich zu ihr getreten war und fragen wollte, was denn los sei, hob sie den Kopf und blickte mich mit freudiger Überraschung an.
"Komm, Eve, ich möchte dir jemanden vorstellen!", meinte sie, fasste meine Hand und zog mich schnell mit sich. Auf den Treppen wäre ich beinahe über meine eigenen Füße gestolpert und als wir unten waren, fragte ich: "Was ist denn los? Luna, jetzt warte doch mal!"
Aber entweder hörte sie mich nicht oder sie ignorierte mich, denn sie dachte gar nicht daran, langsamer zu laufen. Unangenehm bohrte sich mein Rucksack mit jedem Schritt in meinen Rücken. Ich vermutete stark, dass es das Lehrbuch war, das mich jedesmal hart schlug.
Keuchend hielt ich schließlich auf dem Universitätsgelände, nahe einer Bank an, währen Luna nicht das geringste Bisschen außer Puste zu sein schien. Ich wusste, dass ich untrainiert war, aber dass es derart schlimm war, hatte ich nicht erwartet. Kurzzeitig musste ich mich sogar auf meinen Knien abstützen, damit das Blut nicht so heftig in meinen Ohren rauschte. Luna hatte derweil schon längst meine Hand losgelassen und unterhielt sich mit jemandem. Da sie mit dem Rücken vor mir stand und ich diesen Jemand so nicht sehen konnte, stellte ich mich neben sie, als ich wieder das Gefühl hatte, ausreichend Sauerstoff zu bekommen und nicht mehr so laut wie ein angeschossenes Schwein zu keuchen.
Zu sehen bekam ich eine männliche Version von Luna. Eine sehr gutaussehende, sehr männliche Version. Dieselbe schwarze Haarfarbe, dieselben furchtbar dunklen Augen und dasselbe verschmitzte Lächeln. Dieses Lächeln galt eindeutig mir und der neugierige, interessierte Blick dieser fast schon schwarzen Augen, bei denen ich Mühe hatte, überhaupt eine Pupille zu erkennen, machte mich nervös. Furchtbar nervös. Es schien mir unmöglich, länger als nötig in diese Augen zu blicken, also sah ich auf seine Nasenspitze, seine fein geschwungenen Lippen oder auf seine geraden, schneeweißen Zähne. Bloß nicht in seine Augen. Es war mir unbegreiflich, wie mich ein simpler Blick so aus der Bahn werfen konnte.
"Eve, das ist mein Bruder Solis. Solis, das ist Eve.", lenkte mich Luna von meinem eigenen, mich selbst verwirrenden Verhalten ab.
"Freut mich, Eve.", meinte er und streckte mir freundlich seine Hand entgegen. Ich ergriff sie und bewunderte ihre sanfte Stärke. Die schlanken, sehnigen Finger passten zu denen eines Klavierspielers oder Gitarristen. Erst nach einigen Sekunden registrierte ich, dass ich seine Hand immer noch nicht losgelassen hatte und zog meine eigene peinlich berührt schnell zurück. Dann erst wurde mir klar, dass das Lunas Bruder war. Der Bruder, von dem ich gedacht hatte, sie hätte ihn sich bloß ausgedacht, existierte also wirklich. Was war dann mit dem Rest ihrer Geschichte, wie dem Beamen? War das möglicherweise auch wahr? Ich beschloss, mich später damit auseinanderzusetzen, da mein Hirn durch die Anwesenheit eines bestimmten Mannes gerade offensichtlich nicht zu gebrauchen war.
Seit einigen Sekunden schon schwiegen wir drei uns an und die Geschwister warteten offensichtlich auf irgendeine Reaktion von mir, während ich mich fragte, ob ich überhaupt schon etwas gesagt hatte.
"Ähm..." Mit einem Räuspern fand ich meine Sprache wieder: "Ihr seht euch erstaunlich ähnlich für Geschwister..."
Aber Luna unterbrach mich schon mit ihrem unbekümmerten Schulterzucken und sagte: "Wir sind Zwillinge.", als ob das alle meine Fragen beantwortete. Naja, zumindest erklärte das, warum beide offenbar im selben Alter waren, schätzungsweise Mitte zwanzig.
Ein Magen grummelte lautstark, ungefähr wie das Knurren eines Bärens, so kam es mir vor, und Solis und ich wandten unsere Aufmerksamkeit voneinander ab und der Besitzerin dieses Magens zu.
"Hey, schaut mich nicht so an, ich hab' halt Hunger!", meinte Luna und schob ihre Unterlippe vor.
Ich seufzte und gab mich mit einem "Gut, suchen wir dir was zu essen." geschlagen, während ich mich gleichzeitig fragte, wie so eine, vom Körperbau eher zierliche Person, den ganzen Tag nur essen und ans Essen denken konnte.
Ich merkte nicht, wie Solis hinter meinem Rücken seiner Schwester einen fragenden Blick zuwarf, woraufhin diese verneinend den Kopf schüttelte.
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From Night To Day
FantasyEine Wildfremde, ein Baseballschläger und ein paar Muffins... Klingt ja fast wie der Anfang eines ziemlich schlechten Witzes. Die Wahrheit ist aber noch bescheuerter und absurder, als es dieser Witz jemals sein könnte. Ich weiß bis heute nicht, womi...