Meine Mutter brach in Gelächter aus. "Liebesbriefe? David?"
"Anscheinend soll er dir einen geschrieben haben", gab ich vor.
Mama wurde wieder ernst. "Das mag sein, aber ich habe nie einen bekommen. Vielleicht verbirgt sich ja ein hoffnungsloser Romantiker voller Sehnsucht in ihm? Wahrscheinlich hat er es sich nicht getraut, mir ein solches Liebesgeständnis zu schicken, nachdem ich ihm einen Korb gegeben habe."
Ein weiterer Stein fiel mir vom Herzen. Wenn meine Mutter den Brief gelesen hätte, wäre sie trotz ihres Vorsatzes bestimmt schwach geworden. Vor allem, da sie diese Art von Dingen liebte. Sie war ebenfalls eine Romantikerin und oft den Tränen nahe, wenn wir uns gemeinsam einen Liebesfilm ansahen.
"Hättest du ihm dann noch eine Chance gegeben?", fragte ich.
"Nein, ich denke nicht. Wahrscheinlich hätte ich mich geehrt gefühlt, aber ich war fest entschlossen, meine große und einzige Liebe zu finden. Obwohl viele Leute das seltsam und unrealistisch fanden, habe ich es durchgezogen", erklärte sie und ich konnte hören, dass sie stolz darauf war.
Es musste wirklich ein wunderschönes Gefühl sein, von sich behaupten zu können, dass man tatsächlich denjenigen gefunden hatte, mit dem man sein ganzes Leben verbringen wollte. Vor allem, wenn der Partner die erste Liebe war.
Fast wäre mir ein Seufzer entwichen, so süß fand ich den Gedanken. Meine Eltern lächelten mir von dem Bild entgegen. Die beiden hatten sich wirklich gesucht und gefunden, obwohl mein Vater uns viel zu früh verlassen hatte.
Aber das sagte ich meiner Mutter nicht, ansonsten überkam sie wieder die Wehmut nach Papa. Es war bestimmt unglaublich schmerzvoll gewesen, ihn zu verlieren. Und ich konnte gut verstehen, warum sie sich von den anderen abgegrenzt hatte. Ihr Vorsatz hatte sie immer beeinflusst und sie hatte in dem Glauben gelebt, jemand bis zu ihrem Tod an ihrer Seite zu haben. Dass dieser Bestandteil plötzlich fehlte, musste sich wie ein Loch in ihrem Inneren angefühlt haben.
"Danke, Mama", meinte ich leise, obwohl ich nicht genau wusste, für was. Wahrscheinlich einfach dafür, dass sie mich von meinen Befürchtungen befreit hatte.
"Viel Spaß beim Dorffest", wünschte Mama mir, nachdem wir beide ein paar Sekunden lang nichts gesagt hatten. "Ich rufe nächte Woche an, damit wir die genaue Zeit vereinbaren können, wann ich dich abhole."
"Alles klar, bis dann", verabschiedete ich mich und Mama legte auf. Ich ließ den Hörer sinken und schloss die Augen, um die Erleichterung zu spüren, die durch meine Adern floss.
Bewegungslos saß ich so da und hing meinen Gedanken nach, bis Oma mich schließlich rief. Bald würde ich Tristan von der tatsächlichen Situation damals erzählen können. Bestimmt freute er sich, weil ein Teil seiner Annahmen bestätigt worden waren.
Bevor wir losfuhren, half ich meinen Großeltern, die vielen Schüsseln voller Essen, die die Dorfbewohner im Laufe des Tages vorbeigebracht hatten, ins Auto zu laden. Nudelsalat würde man heute wirklich bis zum Abwinken essen können.
"Hast du mit deiner Mutter telefoniert?", fragte Opa und reichte mir eine Schale Wurstsalat.
"Ja. Sie möchte noch einmal anrufen, bevor sie mich nächsten Sonntag abholt", erwiderte ich und verstaute die restlichen Dosen und Körbe im Kofferraum. Hungern musste man definitiv nicht.
Oma überprüfte ihre Liste ein letztes Mal und raufte sich die Haare. Erst als sie sich erneut versichert hatte, dass sie nichts im Haus vergessen hatte, konnten wir losfahren. Sie redete die ganze Fahrt über das Programm, das ich inzwischen auch beinahe auswendig kannte. Zum Glück war die Fahrt nur kurz und sobald wir ausgestiegen waren, wurde meine Großmutter von ihren Freundinnen begrüßt. Das ersparte Opa und mir einen weiteren, detaillierten Vortrag über die Auftritte.
Wir trugen die viele Verpflegung zu den dafür vorgesehenen Tischen und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ein Teil der Dorfbewohner war bereits da, doch Tristan und Uwe fehlten noch. Der Wirt war dafür zuständig, das Fleisch zu besorgen und ich vermutete, dass er deshalb erst später kommen würde.
Gerade, als ich mich auf eine Bierbank setzen wollte, wurde ich von hinten gepackt und so fest an die Person herangedrückt, dass ich kaum mehr Luft bekam.
"Isabelle, das ist ja schön!" Ich wurde losgelassen und drehte mich um. Doch ehe ich etwas antworten konnte, wurde ich erneut gegen Carmens ausladende Oberweite gedrückt. Unglaublich, dass eine Frau so viel Kraft haben konnte.
"Ja, ich freue mich auch", presste ich hervor und sie lockerte ihre Umarmung etwas.
Aber nur, um mich mit ihren kleinen Mauseaugen genauer betrachten zu können. Dabei erschien auf ihren vollen Lippen ein Lächeln und ihre Wangen färbten sich hellrosa. "Du bist wirklich erwachsen geworden! Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Letztes Jahr musste ich leider wegen der Grippewelle zu Hause bleiben und konnte nicht zum Fest kommen. Also vor zwei Jahren?"
"Gut möglich", sagte ich und versuchte, mich daran zu erinnern. Im vorhergehenden Sommer waren viele Menschen an einer Grippe erkrankt, weshalb ich manchen schon länger nicht mehr begegnet war.
"Wie geht es deiner Mutter?", erkundigte sie sich.
"Gut, aber sie ist nicht mitgekommen", antwortete ich und hob die Schultern.
Carmen verdrehte die Augen. "Immer diese dämlichen Vorsätze."
"So ist sie nun mal", seufzte ich in dem Moment, als Opa an meine Seite trat.
"Tut mir leid, dass ich euer Gespräch störe, aber du musst mir kurz helfen, einen Biertisch zur Grillstelle zu tragen", meinte er und legte mir eine Hand auf den Rücken.
"Gerne, bis nachher." Ich lächelte Carmen kurz zu, bevor ich meinem Großvater folgte.
Gemeinsam schleppten wir den Tisch auf die andere Seite der Wiese, wo bereits ein älterer Mann das Holz zum Grillen auftürmte. Dann entließ Opa mich wieder und ich setzte mich ein paar Meter weiter ins Gras, um mir einen Überblick über die Dorfbewohner zu verschaffen.
Die meisten kannte ich, wenn auch nicht jeden namentlich. Es war noch immer fast unvorstellbar, dass tatsächlich unter diesen Menschen ein skrupelloser Mörder sein sollte.
In der Nähe entdeckte ich Bernd, der sich mit ein paar anderen Leuten unterhielt. Immerhin konnte ich mit Sicherheit sagen, dass er nicht dahinterstecken konnte. Dafür war die Person vorgestern viel zu schnell geflohen und bei seiner Statur traute ich ihm diese Aktion nicht zu. Doch was, wenn es mehrere Täter gab?
Dann hätten wir ein Problem, da man dort niemanden gezielt ausschließen konnte. Theoretisch konnte sich jeder mit jedem zusammengetan haben. Vielleicht hatte sich der Mörder ja auch Hilfe von jemandem außerhalb des Dorfes geholt? Das würde zumindest erklären, warum Tristan das Auto des Rasers noch nie hier gesehen hatte.
Ein paar Meter von mir entfernt stand Merle. Ihre Beine steckten in einer alten Jeans, die locker auf ihren schmalen Hüften saß und das taillierte T-Shirt betonte ihre Figur. Sie war schon immer sehr sportlich gewesen und ging oft joggen. Zumindest hatte sie das vor ein paar Jahren getan, als ich ihr dabei mehrmals begegnet war. Falls sie inzwischen damit aufgehört hatte, hatte sie jedoch nichts von ihrer Sportlichkeit eingebüßt.
Konnte sie nicht eventuell diejenige sein, die das Graffiti auf den Boden gesprüht hatte? Ihr wäre die Flucht mit Sicherheit gelungen. Aber ich war trotzdem der Meinung, dass sie nicht hinter dem Mord stecken konnte. Außer Eifersucht hatte sie kein Motiv und ich glaubte nicht, dass sie auf Knopfdruck weinen konnte. Ihre Gefühle, als sie uns von meiner Familie erzählt hatte, mussten echt sein.
In den nächsten Minuten saß ich einfach nur im Gras und sah den Dorfbewohnern zu. Dabei hielt ich stets nach Tristan Ausschau, weil ich seine Ankunft kaum erwarten konnte. Ich wollte ihm sofort von dem Telefonat berichten.
Als ich ihn schließlich entdeckte, sprang ich regelrecht auf. Tristan schleppte zwei große Kühlboxen, in denen ich das Fleisch vermutete. Uwe lief hinter ihm her, ebenfalls schwer bepackt. Um den beiden das Tragen nicht zu erschweren, hielt ich mich etwas im Hintergrund und sprach Tristan erst an, nachdem alles aus dem Auto ausgeladen war. "Hey, Tristan!", rief ich ihm zu und winkte ihn zu mir hinüber.
Verwirrung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, aber er wechselte ein paar Worte mit Uwe, bevor er sich zu mir gesellte. "Was ist los? Du wirkst so aufgeregt."
Da hatte er ins Schwarze getroffen. Mein ganzer Körper schien gleich zu platzen, falls ich die Informationen meiner Mutter für mich behielt. "Vorhin habe ich mit meiner Mutter telefoniert und sie hat mir von sich und David erzählt."
Nun galt mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit. "Und, was hat sie gesagt?"
Ich überlegte, ob ich ihn auch so auf die Folter spannen sollte, wie er es manchmal tat. Aber ich konnte die Nachricht unmöglich länger für mich behalten. "Sie hat nie einen Brief von David bekommen", platzte es aus mir heraus.
Sofort weiteten sich Tristans Augen. "Wirklich nie? Hat er sich etwa nicht getraut, ihn deiner Mutter zu schicken?"
"Vermutlich nicht. Aber sie meint, dass sie ihm zwar einen Korb gegeben, er jedoch nicht aufgehört hat, sie zu lieben. Beim letzten Klassentreffen wollte Pauline sogar ein Treffen für die beiden vereinbaren. Wahrscheinlich hat David einfach nicht genug Mut." Wie ein Wasserfall sprudelten die Wörter aus mir heraus.
Tristan legte nachdenklich den Kopf schief und sah mich an. "Vielleicht hatte er so auch weniger Angst vor einer weiteren Abfuhr. Es wundert mich, dass er nach mehreren Jahrzehnten trotzdem noch so sehr in deine Mutter verliebt ist. Obwohl er genau weiß, dass es aussichtslos ist."
Ich nickte. "Für ihn muss es seine große Liebe sein."
"Wenn auch unerreichbar", fügte Tristan hinzu. "Das ist bestimmt kein schönes Gefühl."
Mir vorzustellen, dass ich über eine lange Zeit jemanden lieben würde, von dem ich wusste, dass er meine Gefühle nicht erwiderte, würde mich zur Verzweiflung treiben. Die Einsicht, nicht loslassen zu können, war mit Sicherheit fast noch schmerzhafter.
"Es wäre ein nachvollziehbares Motiv", murmelte Tristan leise, sodass ich es nur mit Mühe verstand. "Er wollte damit erreichen, dass sich deine Familie durch Yasmins Tod entzweit und er so an Yvonne herankommt."
Die Überlegung klang logisch, doch sie ließ mich zusammenzucken. Dass ein Mensch jemanden für dieses Ziel umbrachte, dagegen sträubte sich mein Verstand. Um etwas Derartiges zu tun, musste man fanatisch und von der Liebe besessen sein. Traute ich das David zu?
Unruhig schaute ich mich um. Die Luft war von Stimmen erfüllt und ich ließ meinen Blick über die Wiese wandern. Da entdeckte ich David, der beim Anfachen des Grillfeuers half. Hatte er den Tod meiner Schwester als einzigen Weg angesehen, um Mama näher zu kommen?
Schnell wandte ich mich wieder Tristan zu. "Glaubst du wirklich, dass jemand ein unschuldiges Kind aus diesem Grund umbringt?"
"Liebe ist ein starkes Gefühl." Tristan machte einen Schritt auf mich zu und sah mir herausfordernd in die Augen. Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. "Und wenn es darum geht, wachsen Menschen über sich selbst hinaus."
Manchmal war mir sein Verhalten wirklich unheimlich und ich verschränkte die Arme vor der Brust. Abschätzend musterte ich ihn. Er hatte keinerlei Scheu davor, den Dorfbewohnern alles zuzutrauen. Wahrscheinlich würde er selbst Uwe verdächtigen.
"In Fernsehsendungen vielleicht", erwiderte ich und zog die Augenbrauen hoch.
"Auch in der Realität. Hast du noch nie die Berichte in der Zeitung gelesen, in denen es um Leute geht, die krank vor Liebe sind und andere umbringen?", hinterfragte er meine Antwort.
"Doch, natürlich", gab ich zu und rang mit den Händen. Wohl war mir bei diesem Gedanken nicht. Ich kannte David schon lange und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er meine Schwester umgebracht haben sollte, obwohl Tristans Verdacht nachvollziehbar klang.
Plötzlich rempelte mich jemand von hinten an. Es war Merle, die einem älteren Mann auswich, der einen Kasten Bier trug. "Entschuldigung", rief sie mir zu und hob kurz die Hand.
"Schon gut", sagte ich, aber sie hörte es nicht mehr. Dazu war sie schon zu weit entfernt.
"Lass uns später weiterreden. Ich möchte nicht, dass jemand uns belauscht oder zufällig von unserem Gesprächsthema erfährt", murmelte Tristan und legte mir eine Hand auf den Rücken. "Komm, bald können wir die ersten Würstchen grillen."
Ohne Widerworte ließ ich mich zu der großen Grillstelle führen, wo inzwischen ein großes Feuer brannte. Die ersten Dorfbewohner hatten sich bereits auf die Holzstämme gesetzt, die rundherum mit einigem Abstand verteilt waren. Ein paar Meter weiter war ein Kohlegrill aufgebaut worden, auf dem schon zwei Steaks lagen.
Auf der anderen Seite der Feuerstelle stand David und ich merkte, dass er uns ansah. Sein Blick löste trotz der Hitze der Flammen eine Gänsehaut auf meinen Armen aus.
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Lavendelblütenmord
Misterio / SuspensoWie in jedem Jahr verbringt Isabelle die Sommerferien bei ihren Großeltern in dem Dorf, wo ihre Schwester vor über sechzehn Jahren grausam getötet wurde. Dort stößt sie auf den gleichaltrigen Tristan, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den ungelösten...