Kapitel 4

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Der Weg ist vielleicht nicht weit, dafür aber ziemlich gefährlich. Wie schon gesagt ist die Kriminalität in unserer Gegend ziemlich hoch und fast täglich gibt es Diebstähle, Einbrüche und manchmal sogar Entführungen und Vergewaltigungen. Wenn man hier lebt gewöhnt man sich jedoch recht schnell daran. Man lebt zwar ständig mit der Angst, dass etwas passiert; aber man ist darauf gefasst und das ist manchmal ein großer Vorteil.

Der schnellste Weg zum Kino führt durch einige enge, lange Gassen in einem Teil der Stadt, in der es von Dealern und anderen Kriminellen nur so wimmelt. Alles hier wirkt ziemlich heruntergekommen und verdreckt. Müll liegt überall am Boden herum, die Wände der zum großen Teil leerstehenden Häuser sind mit zweideutigen Anspielungen und Bildern, Nummern und Namen beschmiert und es liegt ein ekelhafter Geruch in der Luft, an den man sich jedoch recht schnell gewöhnt.

Dementsprechend fühle ich mich hier alles andere als wohl und auch heute bekomme ich bei dem Gedanken an die Leute, die hier rumlaufen, eine Gänsehaut. Schnell rücke ich ein wenig näher an Ethan, der mir ein besseres Gefühl gibt. So kriminell wie die Menschen hier sind, so feige sind die meisten auch. Alleine sollte man als Mädchen oder Frau hier nicht herumlaufen, aber zu zweit geht das schon.

Während ich höchst konzentriert meine Füße betrachte, fällt mir plötzlich ein, dass wir ja noch gar nichts zu essen haben! Popcorn bekommen wir im Kino, aber die Chips, Gummibärchen und Getränke sind da immer so teuer...

Ich stupse meinen besten Freund mit dem Ellenbogen an. „Wir haben vergessen, etwas zu essen zu kaufen, Ethan! Und Kino ohne Chips ist scheiße." beschwere ich mich bei ihm. Und er wäre nicht mein bester Freund, wenn er nicht den Ernst dieses Problems verstehen würde.

Allerdings muss er noch Geld abheben, weil er wieder vergessen hat, dass er gar nichts dabei hat, was natürlich ein wenig unpraktisch ist.

Als Ethan anfängt, seine Karte – erst falsch herum, was ihn verwirrt schauen lässt – in den Automaten zu stecken, beschließe ich, schon mal loszugehen. „Ehm Ethan? Ich geh dann schon mal vor, sieht aus als könnte es noch ein wenig dauern."

Das bringt mir einen gespielt wütenden Blick von ihm ein und danach ein kurzes Nicken, bevor er sich wieder fluchend dem Automaten zuwendet, der seine Karte immer noch nicht annimmt. Kopfschüttelnd biege ich nach links ab und steuere auf die Kreuzung zu, an der ich dann nur noch einmal abbiegen muss um zum Supermarkt zu kommen. Währenddessen suche ich in meiner Tasche schon mal nach meinem Geldbeutel, um mich irgendwie abzulenken.

Alleine wird das komische Gefühl, das einen in dieser Gegend wirklich immer verfolgt, nicht unbedingt besser.

Plötzlich höre ich ein Rascheln hinter mir und Schritte. Geschockt fahre ich herum und suche die Gegend ab. Da ist keiner. Langsamer drehe ich mich wieder um und schließe kurz die Augen. Wahrscheinlich habe ich mir das einfach nur eingebildet.

Wieder etwas beruhigt gehe ich weiter. Doch in diesem Moment legt sich eine große Hand auf meine Schulter.

Fast beginne ich zu schreien, als die Person hinter mir zu reden beginnt. „Ganz ruhig, ich tu dir nichts. Ich wollte nur fragen, wo die Bücherei ist." Vor mir steht ein junger Typ, wahrscheinlich zwei oder drei Jahre älter als ich und eigentlich ziemlich gutaussehend. Er ist recht groß, sodass ich zu ihm aufblicken muss. Dort blicke ich direkt in ein markantes Gesicht, umrahmt von weich aussehenden braunen Haaren und mit zwei wunderschönen blauen Augen.

Anscheinend habe ich eben diese zu lange begutachtet, denn der Schönling fängt an, amüsiert zu grinsen und zieht arrogant eine Augenbraue nach oben. Meine tolle Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit rot zu werden, lässt mich natürlich auch jetzt wieder aussehen wie eine überreife Tomate. Peinlich berührt senke ich den Blick und knete nervös meine Hände.

„Äh, die ist da drüben. Einmal rechts, dann die Straße entlang und nochmal rechts." Stolz, den Satz ohne Stottern herausgebracht zu haben, wage ich es nach oben zu schauen. Der Fremde lächelt mich selbstzufrieden an. „Danke Phoebe."

Erschrocken reiße ich die Augen auf, während mich ein ungutes Gefühl erfüllt. Woher weiß er meinen Namen? Ich kann mich nicht erinnern, ihn genannt zu haben.

„Ich... muss dann auch wieder los, muss noch einkaufen. Jetzt. Sofort.", murmele ich vor mich hin, während ich ängstlich rückwärts stolpere. Allerdings ist nun jegliche Freundlichkeit aus dem Gesicht meines Gegenübers gewichen und er schüttelt den Kopf.

In diesem Moment beginne ich zu rennen.

Es ist nicht mehr weit bis zum Supermarkt und da sind Menschen, die mir helfen können. Das weiß ich. Immer wieder schaue ich mich gehetzt zu meinem Verfolger um, immer wieder verringert sich der Abstand zwischen uns, immer wieder versuche ich, mein Tempo zu erhöhen.

Doch auf einmal bleibt der Junge ruhig stehen und verschränkt abwartend die Arme. Verwirrt laufe ich weiter, jetzt mache ich mir nicht die Mühe, darüber nachzudenken. Bis ich gegen eine weitere Person laufe. Erleichterung erfüllt mich, hier ist jemand, der mir helfen kann. Deshalb ist er also stehen geblieben. Aber ich werde schon dafür sorgen, dass er nicht einfach so davon kommt.

„Hallo, bitte helfen sie mir! Der Typ da hinten verfolgt mich und..." Als ich an der Person vor mir hinaufschaue, erkenne ich jedoch nur einen gleichgültigen, leicht genervten Ausdruck.

Und ich begreife, dass er mir wohl kaum helfen wird. Wieder verfalle ich in Panik. Was soll ich jetzt machen? Kurz drehe ich mich im Kreis und erkenne, dass die beiden mir den Weg vor und zurück versperren und ich bezweifle, dass um Hilfe rufen etwas bringen würde, da die nächsten Menschen noch zu weit entfernt sind.

Hilflos und ängstlich taumele ich immer wieder im Kreis und versuche die beiden jungen Männer im Blick zu behalten, die viel zu schnell näher kommen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie der eine ein Tuch aus der Tasche zieht und eine Hand nach mir ausstreckt.

Dadurch fasse ich mich wieder und renne auf den zweiten Jungen zu. Leider ist dieser wohl darauf gefasst und fängt mich mit seinem Arm ein. Gefangen zwischen der Wand, ihm und dem anderen wird meine Panik immer größer. Ängstlich merke ich, wie mein Herz immer schneller schlägt und meine Beine so wackelig sind, dass ich ohne den Arm vor meiner Brust wahrscheinlich zusammenklappen würde.

Warum bin ich nicht bei Ethan geblieben? Warum habe ich vorgeschlagen, alleine zum Supermarkt zu gehen?

Die Hand mit dem Tuch kommt meinem Gesicht bedrohlich immer näher. „So Kleine, du wirst jetzt erst mal eine Weile schlafen...", höre ich den Besitzer der Hand sagen, bevor er mir das Tuch aufs Gesicht drückt. Panisch halte ich die Luft an und schlage wild um mich. Doch die beiden Angreifer sind zu stark, gegen sie komme ich einfach nicht an.

Als ich schließlich Luft holen muss, versuche ich gegen die Bewusstlosigkeit anzukommen, doch egal wie sehr ich mich bemühe, wach zu bleiben, nach und nach wird mein Körper taub und ich sacke am Boden zusammen. Ich merke noch, wie ich überraschend sanft hochgehoben werde, bevor alles schwarz wird.


Wenn die Hoffnung zuletzt stirbt - muss ich dann vor ihr gehen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt