Fünf Worte

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Diese Luft! Wieso haben Kneipen keine vernünftigen Fenster? Aber er hatte sich daran gewöhnt. Nichts anderes heitert einen nach einem langen Tag im Büro auf, pflegte er zu sagen. Was anderes machen geht sowieso nicht. Seit der Kopfverletzung, die ihm ein betrunkener Halbstarker vor vier Jahren verpasst hatte, war seine Konzentrationsspanne nicht mehr so lang und seine Firma hatte ihn gefeuert. Der Job bei der Bank war reines Glück. Wobei er sich da auch nicht mehr so sicher war. Doch es gibt ja Kneipen, sagte er in Gedanken zu seinem leeren Glas. 

Der Fernseher lief. Falls die Welt unterging, würde er es erfahren, doch in den Nachrichten gab es nur den selben Dreck wie immer.

"Na? Dich sehe ich hier auch immer wieder. Ein grässlicher Tag für Neuanfänge, nicht wahr?"
Eine Frau hatte neben ihm Platz genommen. Hübsch, dachte er, das Gesicht kam ihm sogar bekannt vor. Hatte er sie auch schon mal in der Bar gesehen? 

"Wieso eigentlich nicht?", er wollte charmant lächeln, doch es blieb bei einem eingerosteten auseinander ziehen der Mundwinkel. Das üben wir aber nochmal vor dem Spiegel.
Die Frau schien aber trotzdem wie vom Donner gerührt. Warum war sie denn so verwirrt? Plötzlich stand sie auf und ging, als hätte sie nie einen Ton gesagt.
Er rief ihr hinterher: "Tess, warte!" Was? Wie bitte? Woher kannte er ihren Namen? Tess... Woher kam das?
Sie drehte sich um, sichtlich erleichtert, und deutete ihm ihr zu folgen. Einer aufflammenden Neugier folgend, trat er aus der Bar und entdeckte ein Auto. Es war kein besonderes Auto. Es schien aber trotzdem aus der Masse der Großstadt Kulisse heraus zu stechen. Beim überqueren der Straße durchwühlte er sein Gehirn nach Informationen. Doch nichts. "Tess" und "dieses Auto" kamen aus dem Nichts. Er stieg ein.
"Ich dachte schon du erkennst mich nicht mehr.", sie schaute in den Spiegel und zog ihren Lippenstift nach, setzte die Brille ab und zog die Perücke vom Kopf. "Nimm die Sachen aus dem Handschuhfach. Wir brauchen nur zehn Minuten."
Jetzt war ihm die Sache doch nicht mehr so geheuer, "Einen Moment mal! Was machen Sie da? Ich kenne Sie überhaupt nicht!"
Sie legte den Kopf schief und lächelte wissend: "Wer ich bin ist deine geringste Sorge. Deine Verwirrung legt sich schon früh genug."
"Nein, ganz im Ernst, ich kenne weder Sie, noch weiß ich was das ganze hier soll", sagte er rasch und wandte sich zum aussteigen.
"Nein.", ein Klicken ertönte und er spürte etwas hartes in seine Seite stoßen. Hatte diese Unbekannte vor ihn zu entführen?
Langsam ließ er den Türöffner los und drehte sich vorsichtig um. Draußen lief ein Pärchen vorbei. Dort drüben wechselte die Ampel von gelb auf rot. Der Mond prangte am sternenlosen Himmel. Alles ganz normal. Könnte er hier und jetzt wirklich erschossen werden? Vielleicht schaffe ich es ja ihr die Waffe abzunehmen, dachte er. So kühne Gedanken waren ihm ganz neu. Theoretisch war es möglich, aber praktisch tot, ist auch tot.
Er griff nach der Waffe, drehte sie blitzschnell um, drückte die Frau gegen die Autotür und hielt ihr die Pistole von unten gegen den Hals.
"Du hast sowieso keine Chance.", flüsterte sie machte die Autotür auf und fiel rückwärts aus dem Auto. Da sie schrie, war die Aufmerksamkeit der wenigen Passanten schnell erregt.
Er hechtete aus dem Auto. Sie lag immer noch dort und es bildete sich eine kleine Traube von Menschen.
"Schatz! Tu mir bitte nicht mehr weh!", jetzt weinte sie und hielt sich die Wange. Als die Gaffer die Waffe in seiner Hand bemerken, liefen einige weg und schrien. Der Rest verlangte nach der Polizei und die ersten zückten schon ihr Handy.
Panik breitete sich in ihm von der Magengegend aus aus. "I... Ich... Das ist nicht meine Frau!", man schaute ihn entsetzt an. Halt doch einfach den Mund, sagte er sich. Ohne Nachzudenken, denn nur so konnte er sich sein Handeln erklären, sprang er in das Auto und fuhr mit quietschenden Reifen los. Ein paar entsetzte Rufe der Leute verloren sich im Geräusch des aufheulenden Motors.
Zurück fahren ging auf keinen Fall. Wohin sollte er jetzt? Und überhaupt: Was tat er da bloß?
Er fuhr ruhig durch den abklingenden Abendverkehr zur Autobahn. So entspannt und präzise war er seit Jahren nicht mehr gefahren...  Was war eigentlich in dem Handschuhfach? Während der Fahrt auf der Autobahn räumte er den Inhalt aus und legte alles auf den Beifahrersitz. Wegen der Dunkelheit erkannte er nicht mehr als eine weitere Pistole, ein Bündel Karten und Blätter, und etwas haariges. Vielleicht eine Perücke?
Der Tank war voll und die Heizung funktionierte. Warum eigentlich nicht, dachte er und sinnierte über ein Leben als Aussteiger. Alles zurück lassen und neu anfangen. War das nicht der Wunsch von jedem kleinen Zahnrad in der großen Maschine der Bürokratie? Der Wunsch der dem Gedanken der verpassten Chancen aus der Jugend folgten. Nach: "Ich hätte damals doch zur Uni gehen sollen" kommt "Hab ich noch eine zweite Chance?".
Doch, dass diese Steilvorlage nicht ohne Risiko einherging, hätte man sich auch denken können. Man bekommt schließlich nichts geschenkt. 'Sucht die Polizei nach mir?', ist eine der Fragen, wegen denen man sich doch lieber ins Büro begibt und seinem langweiligen Leben fröhnt. Denn in einem langweiligen Leben schaute man nicht permanent in den Rückspiegel um nach Verfolgern oder Blaulicht Ausschau zu halten. Auch dachte man nicht darüber nach, wenn jemand auch noch nach dem dritten Spurwechsel hinter einem fuhr.
Doch genau das war der Fall. Der Mustang hinter ihm war jetzt sehr dicht. Verfolgungswahn soll ja nicht selten sein, wenn man in einem gestohlenen Auto mit zwei Waffen auf dem Beifahrersitz, nach einer seltsamen Begegnung bei Nacht auf einer fast leeren Autobahn unterwegs ist und die Frage was morgen ist noch ungeklärt ist. Da kann ein Auto hinter einem schon mal Angst machen.
Seine Vermutung bestätigte sich, als die Verfolger so wie er, von der Autobahn abfuhren und auch nach hartnäckigen rechts und links Manövern noch hinter ihm blieben.
Aus Panik wurde langsam Verzweiflung. Auch ein letztes Beschleunigen half nicht. Dann, irgendwo auf einer Landstraße, fingen sie sogar an den Wagen zu rammen.
'Was tun? Was?', war das einzige was durch seine Gedanken hallte. An einen einsamen Ort zu fahren, war auch nicht gerade das schlauste. Seine Instinkte waren jetzt das einzige was er noch vom Verstand hatte.
Mit festem Griff zog er an der Handbrause und riss das Lenkrad herum. Aus dem gleichen Grund warum er den Namen der Frau kannte, wusste er auch was er mit dem Auto machen musste damit es Schleudert und er in die andere Richtung fahren konnte. Schnell in eine Stadt, je größer desto besser. Wenn die Leute in dem Verfolger Auto keine Rentner mit Orientirungs Verlust waren, brauchte er Zeugen. Schön viele Zeugen.
Durch überschreiten jeglicher Geschwindigkeitsbegrenzungen kam er irgendwann in eine größere Stadt. Doch auch hier: gähnende Leere. Die Stadt war ihm irgendwie bekannt. Alles war seltsam vertraut. Und wie einer Stimme folgend, fuhr er zum Hafen der Stadt und parkte an der Fähre. Das Auto hinter ihm schien die Fährte verloren zu haben, aber sein Inneres sagte ihm das Gegenteil.
Im diffusen Licht der Auto-innen-Beleuchtung inspizierte er  den Fund aus dem Handschuhfach. Das haarige Dinge war tatsächlich eine Perücke und die Blätter waren Geld. Auf den Karten war zwar sein Bild, aber sonst waren ihm die Informationen schleierhaft: Weder sein Name stimmte, noch das Geburtsdatum und auch die Adresse war falsch.
Eine falsche Identität war jetzt genau das richtige. Seine Euphorie schwoll an und plötzlich wollte er sein ganzes altes Leben hinter sich lassen. Es würde ihn niemand vermissen.
Nachdem er alle Dinge eingepackt hatte, verließ er das Auto. Aus einem plötzlich herbeischnellenden und quietschend stoppenden Mustang sprang ein Mann mit rotem Iro und voller Tattoos: "Was war das denn?! Alter! Du hattest ja einen Affenzahn drauf! Wenn du dich den Befehlen widersetzt, ist das ja eine Sache, aber dann noch den Schneid besitzen und hier trotzdem aufkreuzen. Du hast echt meine Achtung. Wo ist dein Partner?"
Als der Mann näher kam, griff er nach hinten an seinen Hosenbund, wo die Waffe steckte. Der Typ aus dem Mustang reagierte schnell und wollte ihm die Pistole abnehmen. Seltsamer Weise konnte er den Angriff erstaunlich geschickt abwehren. Die Pistole fiel hin, stattdessen nahm er das Handgelenk des Angreifers und zog es hastig zu sich. Dann verpasste er ihm einen gezielten Schlag in den Magen. Als er sich krümmte, schlug er seinen Kopf blitzschnell auf sein Knie. Das Nasenbein brach hörbar, dann ging er zu Boden. 
Schnell verließ er den Parkplatz und ging zur Fähre.
Im Warteraum des kleinen Schiffes waren nur wenige Leute. Es war die  letzte Fähre. Er saß aufgekratzt und kerzengerade da und starrte auf den beginnenden Regen der gegen die Scheiben trommelte. Konnte es eigentlich noch schlimmer werden? Sein ganzes Leben lag ausgebreitet vor ihm, alle verdammten unbezahlten, Überstunden, all die idiotischen Kollegen und diese ganze Normalität. Dass er das nicht wollte, wusste er schon lange.  Aber wie das so ist, man verschwendet seine Zeit mit träumen. Da war die tollkühne Flucht vor einer bewaffneten Fremden und eine waghalsige Verfolgungsjagd ein geringes übel. Aber einen Angreifer elegant ausschalten? Gehörte das noch zu dem Plan? Was war der Plan eigentlich? Aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Schließlich hatte er, bis auf seine Freiheit und sein Leben, nichts zu verlieren was nicht schon von Anfang an verloren war. Eltern tot, Frau... Na ja, damit hatte es irgendwie nie geklappt, Job (Wenig hasste er so sehr), Freunde... Ach ja, da waren ja gar keine... .
In Gedanken versunken bemerkte er nicht wie ein Herr mit schwarzem Mantel und Glatze näher kam. Er setzte sich ihm gegenüber. Ohne Umschweife platze er heraus: "Sie haben keine Ahnung was los ist, habe ich recht?"
Die seltsamen Ereignisse wollten nicht aufhören. Er wurde unruhig und wollte aufstehen. Doch da holte der Mann wie beiläufig eine Zeitung hervor, ließ eine Pistole kurz aufblitzen und schlug sie so in das Papier ein, dass für den normalen Betrachter nur eine Zeitung auf dem Tisch lag. Für den wissenden Betrachter jedoch war hier nichts normal.
Langsam setzte er sich wieder hin, "Seltsam, das ist schon das zweite mal heute, dass das passiert.", eröffnete er vorsichtig das Gespräch.
"Ich weiß. Sonst wäre ich nicht hier."
"Wer sind Sie?"
Sein Gegenüber schaute abschätzig auf ihn herab, "Nun mein Lieber, das ist die falsche Frage. Besser ist: Wer sind SIE? Schon mal darüber nachgedacht?"
Es ratterte in seinem Gehirn... war es die Frau? Oder hatte es was mit der Bar zu tun? Er kam auf keine zufriedenstellende Antwort. Der Mann schaute ihn forschend an.
"Es ist gar nicht so schwer. Versuchen sie sich doch mal an Ihre Kindheit zu erinnern. Na machen Sie schon, ist doch gar nicht so schwer. Es geht nicht? Alles was sie finden sind Standbilder eines Fremden in Ihrem Gehirn?"
Verdammt, das kann nicht sein. Aber alles was sein Geist aus seiner Kindheit hervorbrachte, war tatsächlich wie ein bearbeitetes Foto aus den siebzigern. Eine Bilderbuch-Kindheit ohne besondere Bedeutung.
"Mit allen anderen Erinnerungen die Sie vor dem Vorfall vor vier Jahren haben, verhält es sich genauso. Aber lassen sie mich das erklären: Diese Bilder sind Ihnen eingepflanzt worden. Ihr vorheriges Leben wurde quasi auf einen USB-Stick gezogen und in einen Safe in Ihren Kopf geschlossen. Der Schlüssel für das Schloss ist ein Satz, scheint jedoch nicht ganz funktioniert zu haben."
Sein nachdenklicher Blick verwirrte ihn,"aber... was war denn vorher?"
"Sie sind Spion, und hatten sich unglaubliche Fähigkeiten angeeignet. Ihr Auftrag war es als sogenannter Schläfer auf eine Aktivierung zu warten. Alle weiteren Informationen waren Ihnen ebenfalls vorher eingegeben worden. Deswegen kam Ihnen auch einiges bekannt vor. Nun... Dieses kleine Problem lässt sich aber auch wieder rückgängig machen. Sobald ich diese Erinnerungen wieder in den Safe geschlossen habe, werden Sie sich an nichts mehr erinnern. Sie werden hier sitzen und sich fragen wie sie hier her gelangt sind. Also, ein weiterer Neuanfang Sportsfreund. Aber das ist

ein grässlicher Tag für Neuanfänge."

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