Aiden
„Also, was wolltet ihr mir denn so tolles erzählen?" Nervös stehe ich gemeinsam mit Kyle vor Luke, den man als unseren Anführer bezeichnen könnte. Wie vielen anderen, die entweder auf der Straße gelebt haben oder aus irgendwelchen Gründen nicht mehr zu Hause bleiben wollten, hat er auch uns beiden ein Zuhause gegeben. Er ist nicht viel älter als wir, hat aber am meisten Erfahrung beim Beschaffen von Geld durch weniger legale Techniken. Er gibt uns etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf und so etwas wie eine Familie. Dafür müssen wir aber auch irgendwie dafür sorgen, dass genug Geld vorhanden ist. Wie wir das machen ist ihm egal, aber wenn wir es nicht schaffen sitzen wir wieder auf der Straße.
„Du kennst doch sicher Mr Wilson. Wahrscheinlich nicht persönlich, aber vielleicht hast du ja schon von ihm gehört.", erkläre ich zögerlich. Ich frage mich jedes Mal, wie eine einzige Person es schafft, alle anderen durch seine bloße Anwesenheit nervös zu machen. Normalerweise bin ich extrem selbstbewusst und würde niemals vor einer Person Angst haben, aber Luke ist eine eindeutige Ausnahme.
Aber auch dieser große Raum trägt nicht gerade zu einer tollen Atmosphäre bei. Durch die wenigen Möbel und die hohen Wände wirkt er noch gigantischer. Vor dem einzigen Fenster im Raum steht ein Schreibtisch und dahinter sitzt unser Anführer in seinem großen Drehsessel.
Um ihn herum stehen einige Bücherregale, die bis zur Decke reichen und Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Büchern enthalten. Einige wirken recht neu und ungelesen, andere jedoch so, als würden sie schon seit Jahren hier herumstehen und wären seitdem täglich immer wieder durchgeblättert worden.
„Natürlich. Alt, reich, alleinstehend. Sagt mir bloß ihr habt den alten Sack hierher gebracht, damit er sein Vermögen an uns überschreibt?!" Mit einem sarkastischen Lachen wirft Luke seinen Kopf in den Nacken, schaut uns aber gleich wieder ernst und erwartend an.
„Viel besser. Er ist doch nicht so alleine, wie wir dachten. Ich habe ein Mädchen gesehen, das anscheinend schon vor ein paar Jahren bei ihm eingezogen ist. Ich habe sie beobachtet und als ich mir wirklich sicher war, dass sie bei ihm wohnt und nicht nur zu Besuch ist, habe ich Kyle gebeten, mir zu helfen sie herzubringen. Wenn sie bei ihm zuhause ist, wird sie ihm sicher nicht komplett egal sein und wir können ihn dazu bringen, einen Teil seines Geldes abzugeben. An uns."
Ich kann mir ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen und warte gespannt auf Lukes Reaktion.
Erst scheint er zu überlegen, doch als er den Kopf hebt, kann ich Zustimmung und sogar einen Funken Anerkennung in seinem Gesicht erkennen.
„In Ordnung. Gut gemacht! Redet mit ihr und versucht herauszufinden, wie nahe sie dem alten Geizhals steht. Dann können wir abschätzen, wie viel Geld sie ihm wert ist und wie viel wir verlangen können."
Phoebe
Langsam wache ich auf. Noch im Halbschlaf taste ich nach meinem Wecker um nach der Uhrzeit zu schauen. Doch da ist kein Wecker. Und auch mein Nachtkästchen ist nicht da, wo es hin gehört.
Mit einem Ruck setze ich mich auf. Im Nachhinein bemerke ich, dass das wohl keine gute Idee war, denn mein Kopf pocht schmerzhaft und vor meinen Augen erscheinen schwarze Punkte.
Mein Gleichgewichtssinn war noch nie wirklich der beste, aber heute ist er ja mal richtig am Arsch. Stöhnend drücke ich mir eine Hand an den Kopf und suche mit der anderen Halt am Bett. Was war gestern bitteschön los? Genau das ist der Grund, warum ich auf keine Partys gehe. „Das ist wohl genau die Art von Kater, von der Lucy immer erzählt...", murmele ich vor mich hin, während ich versuche aufzustehen.
Als es mir gelingt, will ich mich auf den Weg ins Bad machen. Eine kalte Dusche hilft jetzt bestimmt! Plötzlich muss ich stutzen. Mein eigenes Zimmer hat petrolfarbene Wände. Das hier definitiv nicht. Bei Lucy kann ich auch nicht sein, bei ihr sieht es ebenfalls anders aus! Wo zum Teufel bin ich?
Wankend begebe ich mich zum Fenster. Draußen wird es schon langsam dunkel. Wäre ich auf einer Party gewesen, müsste es doch jetzt vormittags sein? Irritiert bleibe ich stehen, als ich auch noch Schritte vor der Tür höre und wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wird.
Mit großen Augen betrachte ich die Person, die nun vor mir steht. Groß, blaue Augen, braune Haare.
Mit einem Schlag kommt die Erinnerung an gestern zurück. Wie ich mit Ethan ins Kino gehen wollte, mein Plan einkaufen zu gehen, die dunkle Gasse und die beiden Typen mit dem ekelhaft riechenden Tuch.
Zitternd weiche ich zurück, als der Junge langsam auf mich zukommt. „Geh... geh weg! Komm nicht näher, lass m-mich in Ru-Ruhe!", stottere ich und drücke mich gegen die Wand hinter mir. Ängstlich schließe ich die Augen und hoffe, dass der Fremde nicht näher kommt. Doch natürlich wird mein Wunsch nicht erfüllt.
Ich öffne die Augen wieder und sehe ihn die Arme beschwichtigend heben. „Ich will nur reden, ok?" Seine Stimme hört sich leicht genervt, aber auch irgendwie mitleidig und hilflos an. Meine Angst kann sie dennoch nicht lindern. „Geh weg...", flüstere ich, während ich erschöpft an der Wand herunterrutsche.
„Wirklich, ich will nur reden. Hör mir einfach zu und beantworte meine Fragen, dann kann ich gleich wieder gehen. Das wollen wir doch letztendlich beide, oder?" Jetzt klingt er nur noch genervt. Anscheinend will er das hier wirklich schnell hinter sich bringen und hat zumindest in diesem Moment noch nicht vor, mir wehzutun.
Also hebe ich meinen Kopf und stehe vorsichtig auf, um meinen geschwächten Kreislauf nicht noch mehr herauszufordern. Nach einer Weile schaffe ich es zum Bett, lasse mich dort nieder und schaue den Jungen fragend an.
„Ich will gar nicht groß drumherum reden. Du wohnst bei Mr Wilson und kennst ihn auch, das weiß ich und das brauchst du auch gar nicht zu bestreiten. Du musst mir nur noch sagen in welcher Beziehung du zu ihm stehst, dann können wir anfangen und du bist auch schneller wieder zu Hause.", erklärt er mir und zieht erwartend die Augenbrauen hoch.
„Aber... Ja, ich wohne bei ihm. Aber ich kenne ihn nicht mal richtig! Er lässt mich lediglich in seinem Haus bleiben. Ich bin nicht mit ihm verwandt oder stehe ihm sonst irgendwie nahe. Wirklich nicht! Und womit wollt ihr anfangen?"
Die Freude darüber, meine richtige Stimme wiedergefunden zu haben, wandelt sich in bloße Verwirrung. Irritiert runzelt mein Gegenüber die Stirn.
„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst? Auf jeden Fall kannst du ihm nicht komplett egal sein, wenn du bei ihm wohnst. Und womit wir anfangen wollen? Wir werden deinem Mr Wilson einen netten Brief zukommen lassen in dem steht, dass entweder er sein Geld oder du dein Leben behalten kannst. Das liegt ganz bei ihm. Ich hoffe für dich, dass er die richtige Entscheidung trifft." Mit diesen Worten dreht der Junge sich um und verlässt den Raum. Als er die Tür abschließt, bricht Panik in mir aus. Er und wer auch immer der Rest von „wir" ist, wollen Mr Wilson erpressen. Bezahlt er nicht, sterbe ich.
Zitternd sinke ich auf dem Bett zusammen. Für mich wird der alte Mann sicherlich nichts bezahlen. Und damit ist mein Schicksal besiegelt.
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Wenn die Hoffnung zuletzt stirbt - muss ich dann vor ihr gehen?
Teen Fiction„Ich... bin raus gefallen. Und jetzt komm ich nicht mehr hoch.", erwidere ich hastig. Das klingt nicht ganz so doof wie „Ich wollte aufs Klo, hab dann aber beschlossen, einen umkippenden Laster zu simulieren und möchte jetzt aber doch ganz gerne wie...