Der Geschmack von gefallenen Herbstblättern liegt mir auf der Zunge, er klebt auf meinen Lippen und ich rieche das Laub auf meiner Haut, als ich mir den Handrücken vor die Nase presse. Meine andere Hand steckt bis zum Gelenk im kalten Wasser eines kleinen künstlichen Teichs. Ich wundere mich, warum nichts meine Finger packt und mich auf den Grund zieht, doch dann erinnere ich mich daran, dass dieses Ding höchstens anderthalb Meter tief ist, absolut nichts außer ein paar kränklichen Algen darin lebt und das ganze sowieso nur Wunschdenken wäre.
Da ist ein einzelnes Haar in meinem Augenwinkel. Ich versuche es zu ignorieren, doch dann wische ich es so brutal wieder unter meine Mütze, dass ich es mir an der Wurzel ausziehe. Und ich wische trotzdem weiter, weil ich immer noch das Gefühl habe, meine Sicht sei von irgendetwas getrübt - verzweifelt reibe ich mir über das müde Gesicht, wieder und wieder, bemerke, wie verblüffend ähnlich dünne Haarsträhnen und Gitarrensaiten sich anfühlen, und presse mir schließlich wieder den Handrücken vor die Nase.
Auf der Wasseroberfläche schwimmen Dreck, tote Insekten, rot und gelb gefärbte, trockene Blätter und ein leerer, aufgeschwemmter Kaffeebecher aus Pappe.
"Das ist Ezra. Er trinkt nicht. Er passt auf uns auf."
Das waren die Worte, mit der ich ihr vorgestellt wurde - ihr Lidstrich war fein wie ein Papierschnitt, ihr ausgewaschenes rosa Haar hing ihr wie ein Vorhang über den Schultern, und unter ihrem dünnen T-Shirt frierte sie so stark, dass sie zitterte. Es war so dunkel, dass ihr Gesicht nur noch durch das Aufglühen ihrer Zigarette beleuchtet wurde, und vielleicht lag es auch daran, dass ich automatisch so fasziniert von ihr war. Sie nickte Wallace lediglich zu und wandte sich dann wieder um, legte ihre Hände auf den kalten Stein und blickte vom Dach runter auf die schlafende Stadt.
Meine Mutter hatte mich einfach nur wortlos an sich gedrückt, als ich in dieser Nacht nach Hause gekommen war. Sie hatte geweint, und die Küsse, die sie mir auf die Wange gepresst hatte, hatten nach Whisky gerochen, nach Whisky und billigen Zigaretten - dieselben, die sie auch geraucht hatte.
Ich kannte Wallace aus der Jugendgruppe, in die sie mich gesteckt hatte, um Freunde zu finden. So hatte sie es zumindest formuliert. Ich hatte das Gefühl gehabt, sie wolle mich nur loswerden. Mich nicht mehr so oft in der kleinen Wohnung haben, mich und die dunkle Wolke, die mich umgab, mich und mein Gesicht, das sie zu sehr an den Mann erinnerte, der sie vor all diesen Jahren immer so fest angefasst hatte, Kopf gegen Wand, Flasche gegen Stirn, Hand an Brust, Lippe an Lippe.
Ich saß an der Seite, als Wallace mit ihr tanzte, und ich sah dabei zu, wie sie sich küssten. Ihre Haare verfingen sich ineinander und flogen im Takt des Windes. Ich zählte die blauen Flecken an ihren nackten, blassen Beinen. Irgendwann vergaßen sie mich, und sie lachte so laut, dass ich fürchtete, die Bewohner des Mietshauses würden uns hören und die Polizei rufen.
Schließlich fing meine Mutter an zu schreien. Sie klatschte mir alle fünf Finger ins Gesicht, auf genau dieselbe Wange, die sie bis eben noch liebkost hatte, und ich hatte das Gefühl, sie würde mir den Abdruck ihrer Lippen herausschlagen, er würde einfach abfallen und ihre Liebe mitnehmen. Sie riss einen Kochlöffel aus der metallenen Halterung über der Arbeitsplatte, riss mir das Shirt hoch und das feste Holz traf auf weiches Fleisch.
Ozeane waren zwischen mir und den beiden. Als sie mir die Hand hinstreckte und mir aufhelfen wollte, zuckte ich zusammen, doch dann nahm ich sie. Sie war warm. Sie spielte mit meinen Fingern, als sie mich langsam näher zu sich zog. Wallace beobachtete uns aus abgewägter Distanz.
Ihre Schreie verwandelten sich in heiseres Krächzen. Das Krächzen waren bald nur noch einzelne Worte, die sie herauspresste wie eine Schlange. "Feigling", war darunter, "Bastard, Balg, Arschloch, widerlich, Feigling, ich muss kotzen, wenn ich dich anseh". Für jede Silbe ein Schlag.
Mein Herz drohte aus meiner Brust zu springen, als sie den Arm um meine Schulter legte und mich langsam vor und zurück wiegte. Der Wind fuhr durch unsere Kleidung und hob ihr T-Shirt an, ich konnte ihr in den Ausschnitt sehen, sie war darunter vollkommen nackt. Ich nahm den Blick von ihr und schon ging er ins Leere, die verblassten Farben des Sonnenuntergangs als Hintergrund. Wallace verabschiedete sich, doch ich hörte ihn nicht. Er kletterte wieder die Feuerleiter herunter, die wir hochgekommen waren.
Sie zog mir die Hose herunter. Ich wehrte mich nicht. Es war kalt. Mir war, als würden alle Schläge immer noch auf meiner Haut brennen. Sie nahm den Gürtel aus meiner Jeans, fasste ihn in ihrer Hand zusammen und ließ ihn auf meinen Oberschenkel flitschen. Sie hatte aufgehört zu reden, sie keuchte nur noch. Wieder und wieder und wieder und wieder knallte es. Ich traute mich nicht, die Arme vors Gesicht zu nehmen, und so landeten einige Schläge auch dort. Einer war so heftig, dass er mir für einige Sekunden die Sicht raubte und ich nichts anderes hörte als Pfeifen.
Ihr Kichern klingelte in meinen Ohren wie Engelsgesang. "Hast du eine Freundin?"
"Stirb, du Bastard", zischte sie.
"Nein", sagte ich heiser. Daraufhin schmunzelte sie, es zog Grübchen neben ihre Mundwinkel. Ihre Augen streiften ab, und als sie ihre Hand unter mein Oberteil auf meine Rippen wandern ließ, hielt ich die Luft an. Ich spürte, dass sie meine Narben bemerkte, und auch, dass sie diese vollkommen ignorierte. Sie legte ihren Mund langsam an meinen Nacken, nahm meine Hand und legte sie auf ihre Brust. Ihre Haare wurden durch den Wind in meine Augen geweht.
Sie bückte sich, nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich an, ich konnte durch ein Auge nichts erkennen, es war zugeschwollen, und spuckte mir ins andere.
Es war vier Minuten nach drei, als ich zitternd die Feuerleiter herunterkletterte, jede ihrer Berührungen wie getrocknetes Wachs auf meiner Haut spürend, diese Stellen bei jeder Bewegung bemerkend.
Sie ließ mich nackt, blutend und zitternd in der Küche liegen, stieg über mich, zog sich im Flur ihre Jacke an und verließ die Wohnung.
Ich ziehe mir die Schuhe aus, lasse die blassen, mit blauen Adern und Schwielen bedeckten Füße ins kühle Wasser gleiten. Die Beine hinterher. Ich stehe im See. Lehne mich langsam nach vorne, bis ich ins Nass klatsche. Ich lasse mich auf der Oberfläche treiben, ständig stoße ich mit dem Körper an Müll, doch ich stehe nicht auf. Bleibe mit dem Gesicht nach unten.
Hoffe, dass ich einschlafe.
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Ezra
Teen Fiction"Er kam einfach irgendwann mit uns mit." ~ Eine kurze Geschichte über Schmerz.