Prolog

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Ich stehe auf der Brücke.
Unter mir ist nichts. Ein riesiges, in morgendlichen Neben gehülltes Nichts. Meine zittrige Hand klammert sich an den wackligen Zaun. Ich will springen. Denn es gibt drei Dinge, die ich mit Sicherheit sagen kann. Erstens, ich liebe dieses Leben schon lange nicht mehr. Jedenfalls nicht so sehr, als dass mir der Gedanke an den Tod Angst machen würde. Zweitens, für mich erscheint der Tod wie eine schwarze, dicke Decke die mich still einhüllen wird und an der all die furchtbaren Gefühle, die ich jetzt noch fühle, abprallen werden. Drittens, ich kann so nicht mehr weiter machen.
Ich bestehe beinahe nur noch aus Angst. Ich bin nicht mehr ich. Dieses Leben kann mir nichts mehr geben. Ich schlucke, aber mein Hals ist so trocken, dass es weh tut. Meine Familie wird mich dafür hassen. Mom. Dad. Nick. Ihr werdet nie verstehen, wie ich mich gefühlt habe. Es tut mir Leid! Mein Herz klopf schnell und hart gegen meinen Burstkorb. Bitte, bitte, bitte quält euch nicht mit Schuldgefühlen. Mir kann niemand mehr helfen. Es ist zu spät. Ich habe mein Lächeln verloren.
Ich sehe zu wie sich meine Fußspitzen in den schwarzen Converse-Schuhen nach vorne tasten. Ich will nicht daran denken, wie es später aussehen muss. Wenn diese Schuhe unten im Flussbett liegen. Nicht nur diese Schuhe sondern mein Ich, dass nicht mehr wie mein Ich aussehen wird. Ich schließe die Augen. Ich kann keinen Rückzieher mehr machen. Ich kann nicht. Eine Träne stielt sich zwischen meinen Wimpern hervor und bahnt sich ihren Weg über meine blasse Wange. Von Sommersprosse zu Sommersprosse. Und dann ist sie die erste, die von der Brücke fällt.
Ich lasse den Zaun los. Fingerspitze um Fingerspitze löst sich meine verzweifelte Umklammerung. Ich will loslassen. In mir ist alles schwarz.
Doch plötzlich wird diese Leere durch grelle Scheinwerfer geblendet. Ich drücke mich gegen den Zaun neben mir und bete, dass ich nicht entdeckt werde. Ich bin froh, dass ich jetzt bete. So kurz vor meinem Ende.
Bunte Zirkuswohnwagen ziehen an mir vorbei. Nick wird sich freuen, dass der Zirkus in die Stadt kommt. Ich schlucke. Obwohl...vielleicht wird er sich in nächster Zeit nicht so leicht über etwas freuen können. Eine zweite Träne kullert über meine Wange. Ich streiche sie weg. Meine Finger sind eiskalt und hinterlassen eine brennende Spur in meinem Gesicht. Niemand scheint mich zu bemerken. Die Karawane zieht beinahe lautlos an mir vorbei. Vielleicht hat die Angst mich unsichtbar gemacht. Ich werfe einen Blick nach unten und muss erschrocken feststellen, dass das Unten plötzlich noch viel tiefer aussieht. Der Nebel hat sich verzogen. Ich muss mich beeilen, sonst werde ich es nicht schaffen, zu springen. Ich drehe mich wieder in Richtung Straße. Ein letzter Wohnwagen der Karawane fährt an mir vorbei, auf dessen Seite ein riesiges Plakat prangt. Ich erkenne, was mich da vom Plakat anlacht.
Ein Clownsgesicht. Ein breites Lächeln.
Ich schließe die Augen und auch der letzte Wohnwagen fährt an meinem geduckten Ich vorüber. Das Lächeln geht mir nicht mehr aus dem Kopf. 
Meine steifen Finger raufen sich durch meine Haare, aber ich weiß schon, dass ich heute nicht springen werde.

Die Kunst des ClownsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt