Reiche mir deine Hand und ich schenke dir mein Lächeln.

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Die Sonne brannte vom Himmel, als wollte sie einen neuen Hitzerekord aufstellen. Aber im Moment fragte ich mich eher, was ich hier sollte. In einem Anflug von Wahnsinn hatte ich mich tatsächlich auf den Weg zum Zirkus gemacht und jetzt befand sich direkt vor mir ein riesiges, gestreiftes Zelt. Ich musste mir schleunigst eine plausible Ausrede einfallen lassen, warum ich hier her gekommen war- zumal augenscheinlich keine Vorstellung geplant war, denn außer mir, waren keine Besucher hier. Warum war ich hier? Ich konnte doch nicht tatsächlich her rennen, nur weil irgendjemand mich zum Spaß herbestellt hatte?!

„Kann ich helfen?" Ein wirklich sehr muskulöser Typ war stehen geblieben. Er trug eine Kiste voller Zaumzeuge und Gurten und tat so, als hätte sie kein Gewicht. „Ähm vielleicht?", piepste ich. „Ich suche...Roy?" Der Junge, der ungefähr in meinem Alter zu sein schien, sah mich auf einmal mit ganz anderen Augen an. „Ist er hier?" Klang meine Stimme zu aufgeregt? „Ja er...ist bei den Wohnwagen. Er hat gerade Pause...ähm...komm...komm einfach mit" Ich nickte und setzte mich in Bewegung. „Danke" Wir waren noch keine zwei Schritte unterwegs, da räusperte er sich. „Ich bin übrigens Nathan. Roys Cousin" „Freut mich-" Freut mich? Ich überlegte gerade, was ich sagen sollte, da bog er unerwartet nach rechts. Es sah hier so ungefähr aus, wie auf einem Campingplatz. Erstaunlich viele Wohnwagen parkten kreuz und quer, alle mit dem Logo „Kingsley's Circus" und weißen Fensterläden. Mein Herz blieb stehen, als ich auf das Poster blickte, dass an dem Wohnwagen klebte, den Nathan ansteuerte. Der lachende Clown. Eine schmerzliche Erinnerung an den Morgen auf der Brücke bohrte sich in mich. Ich verschränkte meine Arme und versuchte, es aus meinem Bewusstsein zu verdrängen. „Warte hier. Ich hol ihn" Ich blieb folgsam- um nicht zu sagen eingeschüchtert- stehen, sah zu, wie Nathan die Kiste abstellte, zum Wohnwagen vor uns joggte, die drei Treppen hinaufsprang und an die Tür klopfte. Ohne ein Herein abzuwarten, ging er hinein, ließ die Tür nur angelehnt. Automatisch ging ich ein Stück näher hin. Das Gespräch im Wohnwagen war nicht zu überhören. Ich schmunzelte und lauschte. „Roy? Hey, da ist jemand für dich" „Wer denn?" „Die, mit den nassen Haaren. Die, die wie deine Lieblingsjahreszeit heißt? Kapiert?" „Summer?!" Dann hörte ich noch ein Poltern, einen schmerzerfüllten Schrei, einen unterdrückten Fluch, ein ersticktes Lachen und dann ging die Tür auf. Roy spähte so aus der Tür, als würde er halb erwarten, dass Nathan nur Spaß gemacht hatte. Bis er mich sah.
„Summer!" Seine Augen wurden groß. Ich hob unsicher die Hand. „Hi" „Hi!" Er trabte die paar Stufen hinunter und kam mit federnden Schritten zu mir. „Ich...ähm...war gerade in der Gegend und-" Lahm Summer! Laaaahm! „Und dann ist mir eingefallen, dass du mir ja noch beweisen musstest, dass euer Zauberer kein verrückter Mörder ist" Roy blinzelte kurz, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Als ob die Sonne aufginge. Er machte den Mund auf, stockte dann aber und drehte sich um. Ich konnte nicht erkennen, welches Zeichen er Nathan gab, aber auf einmal setzte der sich in Bewegung, hob seine Kiste auf, grinste, salutierte und ging. Ich sah ihm baff nach. „Was hältst du davon, wenn ich dich hier mal herumführe?" Ich drehte mich wieder zu Roy. Kein typischer Wie- geht's- dir- Ist- das- Wetter- nicht- schön- Smalltalk, cool! „Gerne" „Super" Roy lächelte glücklich, nicht weniger überrascht von meinem Besuch, als ich selbst. „Nathan hat gesagt, du hättest gerade Pause...wenn du dich lieber ausruhen möchtest-" Oh Mann. Wie aufdringlich musste ich ihm gerade vorkommen? Zuerst geh ich mit den Jungs in die Vorstellung. Dann rede ich kurz mit ihm- aus reiner Höflichkeit. Am Abend tauche ich dann auf einmal heulend hier auf und er muss mich aufheitern. Und jetzt bin ich schon wieder hier, keine 24 Stunden später! Ganz sicher hatte er mich nur aus Smalltalk- Regeln wieder eingeladen. So wie man Auf Wiedersehen statt Tschüss sagt, auch wenn man den anderen gar nicht wiedersehen will. „Quatsch, Summer. Komm schon" Ich holte tief Luft und nickte dann. „Okay" „Ich kann's fast nicht glauben, dass du tatsächlich gekommen bist" Er setzte sich schlendernd in Bewegung. „Ja...ich muss mich auch gerade erst davon überzeugen", gab ich zerknirscht zu. Er lachte- er hatte ja keine Ahnung, wie ernst ich das gemeint hatte. „Also du...hast gerade Sommerferien?" „Ja" ich nickte. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass ich ihm davon erzählte, wie lange die Ferien andauerten, in welche Klasse ich im Herbst gehen würde und so weiter, aber wahrscheinlich hatte ich inzwischen zu lange nachgedacht, um noch was hinzuzufügen. Bescheuert. Roy schmunzelte. „Und? Genießt du sie?" Ich verschränkte die Arme und unterdrückte ein Augenrollen. „Ja. Klar. Nur gibt es zu Hause immer recht viel zu tun, also-" „Ah ja?" Ich nickte. „Und was?" Mit mir Smalltalk zu führen, war wahrscheinlich ziemlich anstrengend. „Wir- ich wohne auf einer Orangenfarm" Er sah überrascht zu mir. „Wirklich?" „Ja. Mein Dad hat die Orangenplantagen von seinen Eltern übernommen" „Ist es ein großes Grundstück?" Ich musste lächeln, weil groß unmöglich diese unendlich weiten Plantagen beschreiben konnte. „Es ist riesig! Wenn die Bäume blühen, ist es ein Meer aus weißen Blüten und zur Erntezeit ist das Feld orange gesprenkelt. Die Orangen sehen so wunderschön aus inmitten von diesem Dunkelgrün!" Ich bemerkte, dass er mich ansah, und machte den Mund zu. Beschämt starrte ich auf den Boden. „Das klingt fantastisch. Auch wenn ich Riverside nicht sonderlich mag", fügte er hinzu. Ich war enttäuscht. „Warum denn nicht?" Jetzt schaute er zu Boden. „Persönliche Gründe" Ich nickte und senkte den Blick. „Wie geht' s deinem Bruder...ähm...Nick?" „Gut. Danke" Jetzt schaute er in den Himmel. Gerade so, als würde er dort etwas suchen- oder jemanden. „Er hat sich am Abend mit Moms Lippenstift seine Nase rot angemalt und verkündet, er wolle Clown werden" Roy lachte und sah wieder auf mich. „Und dann hat er davon erzählt, dass er dich unbedingt einladen muss und dass ihn die anderen Jungs sicher beneiden würden, wenn er einen echten Clown auf seiner Party hätte" „Er ist ein netter kleiner Kerl" „Nenn ihn in seiner Gegenwart bloß niemals klein!" Ich zwinkerte ihm zu. „Er ist schließlich schon neun Jahre, elf Monate, eine Woche und weiß Gott wie viele Stunden alt" Er lachte. Laut und auf irgendeine Weise so, dass sich auch meine Mundwinkel hoben.
„Die Vorstellungen beginnen erst um vierzehn Uhr" Erschrocken drehte ich mich um. Es war eine raue, alte Stimme, die uns zugerufen hatte. Ich erkannte das faltige Gesicht des Zirkusdirektors sofort wieder und sah besorgt zu Roy. Der stellte sich ein Stück vor mir. „Seit wann machst du private Führungen, Junge?", der Mann musterte mich misstrauisch. „Grandpa, sie ist eine Freundin." Roys ruhige Stimme schien den Mann zu besänftigen. Ich streckte meine Hand aus. „Hi, ich bin Summer" Der Alte sah Roy forschend an, nahm dann aber meine Hand und schüttelte sie. „Anthony Kingsley" Ich zwang mich zu einem Lächeln. Es wurde nur ungern erwidert. „Wenn...wenn ich störe, gehe ich natürlich sofort. Ich hoffe-" „Ach was, überhaupt nicht. Komm ich...zeig dir die Tiere. Komm" „Musst du nicht proben?", warf sein Großvater ein. „Später" Er nickte dem Mann zu. „Grandpa" Der Mann räusperte sich. „Roy" „War schön, Sie kennen zu lernen" Ich hob halb meine Hand. „Gleichfalls, junge Dame" Roy hatte, wie selbstverständlich, meine Hand genommen und zog mich sanft zu den kleineren Zelten. Ich drehte mich noch einmal um. „Mach dir keinen Kopf" Roy räusperte sich. „Riverside dämpft seine Stimmung immer" Er ließ meine Hand los. „Warum denn?", ich versuchte mit ihm Schritt zu halten. „Hast du mal Elefanten gestreichelt?" Hatte er mich nicht gehört? Was war denn mit Riverside? „Nein, aber-" „Na dann komm" Er lief los. „Bist du sicher, dass ich da rein darf?" Ich starrte ehrfürchtig auf ein kleineres Zelt. „Aber klar. Daisy wird sich freuen" Er hielt mir lächelnd den Vorhang auf, um mich ins Zelt zu lassen. Es war stickig hier. Und unglaublich warm. Es roch nach Heu und- Tier. „Roy" Meine Stimme klang dünn, als ich unsicher auf den Dickhäuter zeigte, der seelenruhig Heu in sich rein stopfte. „Komm ruhig näher, sie tut nichts" Ich versuchte so leise wie möglich zu Roy zu schleichen. Ich stand jetzt hinter ihm, keine zehn Zentimeter von meiner Nasenspitze entfernt der Elefant. „Alles okay", flüsterte Roy. Keine Ahnung, ob er mich beruhigen wollte oder Daisy. Er tastete ruhig nach meiner Hand, sah mich an und führte sie dann zur Elefantenhaut. Ich hielt ehrfürchtig die Luft an, als ich die raue, trockene, ledrige Haut berührte und die kleinen, hellbraunen Härchen fühlte. „Wow", hauchte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich ein Lächeln auf Roys Gesicht ausbreitete. „Das ist unglaublich. Einfach unglaublich" Ich streichelte sanft über ihren Bauch. „Sie mal, wie ihr das gefällt", flüsterte Roy. Ich neigte meinen Kopf, um auf das Gesicht der Elefantendame zu sehen. Sie hatte ihre Augen halb geschlossen und zermalmte genüsslich ihr Heu. Ganz von alleine formten meine Lippen ein Lächeln. Es kam von innen, von da, wo es so plötzlich warm geworden war. „Hallo Daisy", flüsterte ich sanft. Sie strahlte eine wohltuende Ruhe aus.
„Roy? Wir proben jetzt, wo-" Ich drehte mich überrascht um. Ein Mädchen, wahrscheinlich ein, zwei Jahre älter als ich, war herein gekommen. Ihre blonden Haare waren zu einem kunstvollen Knoten gezopft. Sie trug ein blau- violettes Kostüm- und sie hatte Roys Augen. „Wer-", setzte sie an, als sie mich sah. „Das ist Summer. Summer, das ist Lynn. Meine Schwester" Ich versuchte mich an einem Lächeln. „Hi" „Hallo", grüßte sie, sah aber verständnislos zu Roy. „Die Probe" „Ja ich...ich komme gleich" „Bring Daisy auch gleich mit" Sie drehte sich um und verschwand aus dem Zelt. Ich schaute unsicher zu Roy. Er hatte deutlich mehr Höflichkeit als seine Schwester geerbt. „Sie ist...ein bisschen...ehrgeizig", versuchte er ihr Verhalten zu erklären. „Wenn sie dich erst besser kennen lernt, ist sie bestimmt viel offener" Ich nickte. Roy schnalzte, wobei Daisy sofort ihren Kopf hob. „Komm Daisy" Die Elefantendame trottete gemütlich neben Roy her, ich im sicheren Abstand zu seiner anderen Seite. „Sie gehorcht dir ja aufs Wort! Hast du keine Angst, dass sie wegläuft?" Er lachte. „Ich kann sie ja schlecht an die Leine nehmen" Ich schmunzelte. Stimmt. Ich bildete mir ein, dass alle im großen Zelt, auf Daisy schauten, als wir hineingingen. Aber trotzdem wurde ich das eingeschüchterte Gefühl nicht los, dass all die Leute dort, Kunstturner, Artisten, Tänzerinnen, auf mich schauten. Ich kam mir vor, wie ein Eindringling.
„Hi Summer!" Nathan, der gerade am Trapez gewippt hatte, ließ sich auf das Netz unter ihm fallen und kam zu uns. Wenigstens einer, der mich nicht so argwöhnisch beäugte. „Hey", grüßte ich zurück und fühlte mich nun noch mehr unter Beobachtung. Ich bemerkte Roys kritischen Blick, mit dem er Nathan verfolgte. „Deine Nummer ist gleich dran. Ich kann solang bei Summer bleiben" Nathan sah unschuldig zu Roy. „Und bei Daisy" Roys Augen verengten sich. „Ich bin gleich wieder da" Ich weiß nicht, ob er es mir als Versprechen oder Nathan als Warnung gesagt hatte. Dann joggte er in die Mitte der Manege. „Willst du was trinken?", bot Nathan an- und klang dabei reichlich hoffnungsvoll. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke" „Komm, dann setz dich auf die Tribüne. Warst du schon mal bei einer Probe dabei?" „Nein. Gestern war überhaupt meine erste Zirkusshow seit einer Ewigkeit" Ich ging Nathan nach, der Daisy einer der Tänzerinnen überreicht hatte und balancierte über die wackeligen Stuhlreihen, bis ich neben ihm saß. „Und, wie hat's dir gefallen?" „Die Vorstellung gestern?" Ich löste meinen Blick nur ungern von Roy, der mit Tellern jonglierte. Nathan nickte. „Sehr gut. Es war echt-" Roy schmiss alle zehn Teller nach oben und fing sie wieder. „Unglaublich" Nathan grinste. „Hat Roy dich schon allen vorgestellt?" Langsam! Ich war nur hier, weil er mich netterweise eingeladen hatte. Man brauchte mich gar nicht allen vorzustellen. „Noch nicht, nein" Er deutete auf Lynn. „Das da ist seine Schwester. Ziemlich ehrgeizig und stur, aber auch ganz nett, mein Cousinchen" Er ließ seine Hand weiter durch das Zelt schweifen. „Da ist meine Mutter, Madison Kingsley" Er deutete auf eine Frau am Vertikalseil. „Wow", kommentierte ich und bewunderte gleichsam die Figur, sowie das Kunststück der Frau. Dort drüben ist meine Tante, Abigail Kingsley" Eine Frau um die Vierzig machte Rollen am Trapez. Ich hielt die Luft an. „Ist das Roys Mom?", fragte ich. Er hatte schließlich Tante gesagt. „Nein" Nathans Stimme klang verändert. Ich sah, wie er kurz zu Roy spähte und dann weiter auf einen Mann zeigte, der Daisy um ein Fass drehen ließ und sie dann mit einem Kommando dazu brachte, ihre Vorderbeine auf dasselbe zu stellen. „Sein Dad. William Coleman" „Coleman?", ich runzelte die Stirn. „Ja. Seine Mom war eine Kingsley. Eine der drei Kingsley- Schwestern. Roy und Lynn sind Colemans" War? Seine Mom war eine Kingsley? „Da, sieh mal, die bauen jetzt das Set für den Zauberer auf. Das musst du dir ansehen! So verstehst du auch, wie seine Tricks funktionieren" „Außenstehende dürfen da nur leider nicht zusehen", Lynn setzte sich neben Nathan und trank aus einer Wasserflasche. Ich fragte mich, wie ein so zartes Mädchen solche Kunststücke schaffte. Dicht hinter ihr kam Roy. „Ach komm, sie wird schon nichts verraten" Nathan verdrehte seine Augen. „Klar. Und morgen kommt keiner mehr, weil ganz Riverside den Trick durchschaut hat", gab sie zurück. „Hast du Durst?" Roy bedeutete mir, ihm zu folgen. „Wir sehen uns!", rief Nathan mir nach. Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie Roy Nathan bedeutete, still zu sein.
„Unsere Bar ist um diese Zeit geschlossen, aber ich kann dir eine Flasche Wasser aus meinem Wohnwagen anbieten" Ich beschloss mein Misstrauen zu unterdrücken. „Danke" „Ich hoffe, Nathan hat dich nicht vollgeplappert" Ich musste schmunzeln. „Er hat mir nur einige deiner Verwandten vorgestellt" Ich hörte, wie er etwas von übermütig murmelte, während ich ihm folgte. „Ich würde mich ja für die entschuldigen, aber-" „Ich mag es nicht, wenn man sich für die eigenen Familie entschuldigt", unterbrach ich ihn. Er sah mich überrascht an und langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Siehst du? Genau deshalb tu ich's auch nicht" Ich schmunzelte. „Hier, setz dich" Er zeigte auf die Treppenstufen, die zu seinem Wohnwagen gehörten und verschwand in dessen Inneren. Ich setzte mich hin und verschränkte meine Arme über meinen Knien. Was zum Teufel machte ich hier? Erwartete er, dass ich langsam gehen würde? War er nur zu höflich, um mich fortzuschicken? Wusste er nicht, wie er mich loswerden konnte? „Hier", hörte ich ihn sagen. Ich drehte mich um und nahm dankbar die Flasche Wasser. Sie war gekühlt und tat unglaublich gut. Die Sonne stand inzwischen an ihrem höchsten Punkt und brannte rücksichtslos auf uns herab. Das kleine Vordach des Wohnwagens machte nur spärlich Schatten. „Also Summer..." Ich drehte mich zu Roy. „Ich hab dir ein Stück meiner kleinen Welt gezeigt" Er lächelte mich an. „Jetzt bist du dran" Ich wich seinem Blick aus und schaute auf das Etikett der Wasserflasche. „Was soll ich denn erzählen?" Er lehnte sich gegen das Geländer. Er saß eine Stufe ober mir. „Was du möchtest. Woher du kommst. Wie deine Eltern so sind. Wie es ist, immer am gleichen Ort zu wohnen. Hobbys. Haustiere. Weitere Geschwister?" Ich musste lächeln. Er kriegte es hin, mich zum Reden zu bringen, ohne mich unter Druck zu setzen. Er schaffte es doch tatsächlich, es so aussehen zu lassen, als würde ihn das alles wirklich interessieren. „Ich lebe schon seit immer auf der Farm. Und es ist perfekt, immer dort zu sein. Ich meine, verglichen mit deinem Leben, ist es sicher nicht so aufregend, aber-" „Ach, so viel bekomm ich von meinen Reisen auch nicht mit. Meistens hab ich nicht mal Zeit, mir eine Stadt genauer anzusehen, bevor wir weiterfahren" „Ist das nicht...einsam?" „Im Zirkus ist man nie einsam. Hier sind wir alle eine große Familie" Ich nickte. Musste auch gerade ich reden. Die, die, obwohl sie ihr Leben lang hier ist, keine zehn Leute so gut kennt, als dass sie sie als Freunde bezeichnen würde. „Und weiter?" Roy sah mich neugierig an. Anscheinend konnten Clowns wirklich gut Schauspielern. „Wir haben keine Tiere auf der Ranch, und es gibt nur meinen Bruder, keine weiteren Geschwister" „Hobbys?" Ich hasste solche Fragen. Ich kam mir immer so schrecklich langweilig und einfallslos vor, wenn ich sie beantwortete. Ich holte Luft. „Ich lese viel. Und ich schwimme- zu Hause haben wir einen Pool. Und ich mag es, abends über die Plantagen zu spazieren" „Allein?" Wie langweilig musste ich ihm nur erscheinen? Oh je. Ich nickte. Dann versuchte ich ein Lächeln. Ich glaube, es misslang. „Nicht viele genießen es, unendliche Weiten aus dunkelgrün und orange zu beobachten" Er lächelte. Ihm misslang es ganz und gar nicht. „Und ich schreibe. Ich schreibe für mein Leben gern" Er setzte sich gerader hin. „Wirklich? Was denn?" „Bücher. Ich meine, es sind keine wirklichen, veröffentlichte Romane, aber..." Er sagte nichts dazu, aber sein Blick sah wirklich...fasziniert aus. Normalerweise verriet ich nicht oft, dass ich schrieb, weil die Reaktionen meistens so enden, dass ich gefragt werde, ob ich denn sonst nichts zu tun hätte. „Ich würd gern was lesen. Was von dir" Ich wurde rot. Meine Liebesromane waren einfach nur für mich. Zu kitschig für die Welt und zu dramatisch für Leser. „Ich weiß nicht ob...ich glaube, sie sind nicht wirklich gut" „Das glaube ich ganz und gar nicht" Ich schaute auf den Boden. Teils beschämt. Teils stolz. „Wie alt bist du?" „Siebzehn" Mit einiger Verspätung fügte ich hinzu. „Und du?" „Einundzwanzig" Ich schaute hinauf in den Himmel. Ohne meinen Mund bremsen zu können, sprach ich das aus, was ich mich eigentlich nicht getraut hätte. „Das gestern Abend tut mir Leid. Ich wollte nicht nerven" Er sah mich an. Richtig. Direkt in meine Augen. Er war ernst, aber seine Augen schienen dennoch zu lächeln. Es sah so aus, als ob wir beide gleichzeitig zurück an gestern Abend dachten. An meine Tränen... „Du hast nicht genervt" „Das ist...eigentlich überhaupt nicht meine Art, so...aufdringlich zu sein" „Summer, ich hab dich doch eingeladen" Jetzt konnte ich seinem Blick nicht mehr standhalten und schaute auf die Holztreppen. „Trotzdem. Ich wäre normalerweise nie wirklich wiedergekommen" „Warum denn nicht?" „Keine Ahnung. Vielleicht...weil ich befürchtete, solche Einladungen seien nur Höflichkeit" Ich hielt die Luft an. Was würde er jetzt antworten? „Also ich hab sie ernst gemeint" Ich schaute noch immer auf die Stufen. „Warum warst du denn so spät noch alleine im Dunkeln? Ich wollte dir ja eigentlich anbieten, dich nach Hause zu begleiten, aber du schienst so in Gedanken vertieft zu sein, dass ich dich nicht stören wollte" Ich schloss die Augen und versuchte, die schmerzhafte Erinnerung an die Panikattacke gestern zu unterdrücken. „Ich...wollte eigentlich nur mal wieder Luft holen und über die Plantagen spazieren" Ich öffnete meine Augen wieder und traf seinen Blick, der auf mir ruhte. „Ich war wohl in Gedanken und hab erst viel zu spät bemerkt, wohin mich meine Beine führten" Sein Blick hielt mich gefangen. Auf eine seltsame Art und Weise, wollte ich mich gar nicht davon befreien. Ich konnte jetzt genau erkennen, dass er nach einer Möglichkeit suchte, mich wegen meiner Tränen gestern zu fragen, ohne aufdringlich sein zu wollen. Ich kannte solche Blicke. „Können wir...wäre es möglich den gestrigen Abend einfach zu vergessen?" Wieder verrutschte mein Lächeln in ein wehmütiges Etwas. Wahrscheinlich sah ich ziemlich gequält aus. Er nickte.
Wir zuckten beide kurz zusammen, als Musik ertönte. Ich sah flüchtig über das Gelände und sah, dass sich erste Zuschauer an die Kassen stellten. „Ich...geh dann mal" Ich stand auf. Er sah überrascht zu mir hoch. „Du kannst dir auch gern die Vorstellung ansehen" Er grinste. „Wenn du mich im Clownskostüm nur halb so attraktiv findest" Von ganz allein lächelte ich wieder. Und es tat so verdammt gut. „Ich glaub, dein Großvater wäre nicht so begeistert davon", lenkte ich ein. Er lachte. „Aber wir sehen uns wieder oder?" Okay, das hätte keine einzige Regel der Höflichkeit verlangt. Das musste er jetzt ernst meinen? Oder? Wollte er mich wirklich noch mal sehen? Oh Gott! „Also abgemacht" Er stand auf. Weil ich kein Wort rausbrachte und schon gar keine Ahnung hatte, wie ich mich jetzt verabschieden sollte, nickte ich nur unsicher, hob kurz die Hand und ging dann ziemlich hektisch einige Schritte nach hinten. Er lächelte, dann schien ihm was einzufallen. „Warte kurz. Nur einen Augenblick" Ich nickte und sah zu, wie er im Wohnwagen verschwand. Keine Minute später kam er wieder heraus. Diesmal mit einem kleinen, achtlos abgerissenen Stück Papier in der Hand. Sag Bescheid, wenn du mal wieder Luft holen und über eure Plantagen spazieren willst" Er reichte es mir und als ich es auffaltete, blickten mir zehn Nummern entgegen. Eine- seine Handynummer. Ich nickte und er lächelte noch breiter. Sein Lächeln hatte nichts von einem Auslachen, was ich ihm nach meinem Abgang sicher nicht übel genommen hätte. Es war ein aufrichtiges, fröhliches Lächeln. Und auch das tat verdammt gut.


Reiche mir deine Hand und ich schenke dir mein Lächeln.
Es wird sich in dein Herz stehlen und du wirst mich nie vergessen

Die Kunst des ClownsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt