Kapitel 42

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Sofort erstarrte ich. Mein ganzer Körper schien sich zu versteifen und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich hielt den Atem an. Ein Schaudern überlief mich.
Wer war da? Und wo war die Person? Die Stimme kannte ich, doch sie hatte so gedämpft geklungen, dass ich sie nicht zuordnen konnte.
Tristan machte einen Schritt näher an mich heran. "Was war das?", flüsterte er kaum hörbar und seine Stimme zitterte.
Wie in Trance griff ich nach hinten und bekam seine kalte Hand zu fassen. Mein Blick huschte hin und her, auf der Suche nach einer Bewegung zwischen den Bäumen. Aber ich sah nichts. Lediglich die schwarze Masse der Baumgerippe.
Meine Knie wurden weich und ich umklammerte Tristans Hand fester, als ich ein leises Rascheln hörte. Augenblicklich beschleunigte sich mein Herzschlag, der wie Pauken gegen meine Trommelfelle hämmerte.
Die kühle Nachtluft füllte meine Lungen und ich zitterte beim Ausatmen.
Erneut ein Geräusch aus dem Unterholz. Tristan und ich rückten noch näher zusammen, sodass ich seinen Oberkörper am Rücken spüren konnte. Langsam legte Tristan die andere Hand um meine Schulter, als wolle er mich festhalten.
"Lass uns wegrennen", hauchte ich und die Angst in meiner Stimme ließ mich panisch werden. Die Muskeln in meinen Beinen spannten sich bereits an, jeden Moment bereit, loszulaufen.
Doch Tristan bewegte sich nicht. Als ich mich zu ihm umdrehte, waren seine Augen auf den Wald gerichtet und sein Mund stand leicht offen. Er wirkte, als habe er meine Worte gar nicht wahrgenommen.
"Tristan!" Nun war die Furcht in meiner Stimme unüberhörbar. Alle Gedanken in meinem Kopf drehten sich nur noch darum, wie wir am besten von hier wegkommen konnten. Das ungute Gefühl in meinem Magen schmerzte bereits und ich krümmte mich leicht zusammen. "Tristan, ich will hier weg!"
Ich umklammerte seine Hand fester, machte ein paar Schritte und zog ihn mit mir. Das Blut rauschte in meinen Adern und pochte gegen die Gefäßwende.
Auf einmal lösten sich die Umrisse einer Gestalt aus dem Unterholz.
Die Luft in meinen Lungen schien zu Eis zu gefrieren und mich innerlich zusammenzuziehen. Für einen Moment stand die Zeit still und kein einziger Laut drang mehr zu mir vor. Als hätte man uns drei in eine schalldichte Kapsel gesperrt.
Erst als Tristan ein ungläubiges Geräusch von sich gab, zerplatzte die Illusion und ich taumelte einen Schritt nach hinten. Mit einer geschmeidigen Bewegung trat die Frau ins Mondlicht. Die Gläser der randlosen Brille glänzten und die schmale Mondsichel spiegelte sich darin.
"Wohin wollt ihr denn?", säuselte sie und auf ihr filigranes Gesicht legte sich ein Lächeln, das mir das Herz stocken ließ. Ihre braunen Augen wirkten beinahe schwarz und hoben sich deutlich von ihrer hellen Haut ab.
Von hinten umschloss Tristan meinen Oberkörper mit seinen Armen und drückte mich enger an sich. Sein schneller Atem wärmte meinen Nacken und ich tat nichts außer still dazustehen und zuzusehen, wie Pauline uns musterte. Die Arme verschränkt, die Augenbrauen hochgezogen blickte sie uns an.
"Los, weg hier", flüsterte Tristan mir ins Ohr. Ehe ich antworten konnte, versetzte er mir einen leichten Stoß und wollte loslaufen, doch Pauline reagierte sofort.
Für einen Augenblick verschwand ihre rechte Hand unter dem übergroßen Pullover und im nächsten Moment hielt sie Tristan ein Grillmesser entgegen, an dem sogar noch Spuren des Essens erkennbar waren. "Nicht so schnell", sagte sie mit gedehnter Stimme und einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Sie hob das Kinn und dirigierte Tristan mithilfe des Messers wieder zurück.
Meine Füße schienen fest im Boden verankert zu sein, denn ich bewegte mich keinen Millimeter und verfolgte lediglich aus den Augenwinkeln, was sich vor mir abspielte, während mein Herz schneller klopfte als je zuvor.
"Was wird das?", keuchte Tristan und blieb vor mir stehen. Sein Oberkörper nahm mein ganzes Blickfeld ein.
Ich konnte Paulines Gesicht zwar nicht sehen, aber allein ihre bedrohliche Stimme genügte, um mich an Tristans Hand zu klammern. "Ich glaube, das wissen wir beide ganz genau."
Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass Tristan etwas entgegnete. Das Rauschen der Blätter kam mir auf einmal viel lauter und bedrohlicher, die Bäume noch dunkler vor. Alles erschien mir wie ein Gefängnis, in das man mich gesperrt hatte.
Tristan machte einen kleinen Schritt zur Seite und gab den Blick auf Pauline frei. Sie schaute mir direkt in die Augen, die schmalen Brauen zusammengezogen, sodass sich eine Furche auf ihrer Stirn bildete. Das hämische Lächeln war verschwunden, nur das Funkeln in ihren Augen noch geblieben. Die schmutzige Klinge des Grillmessers leuchtete im Mondlicht auf, als sie damit herumspielte.
"Ihr wart mir so knapp auf den Fersen", meinte sie leise und hob Daumen und Zeigefinger der anderen Hand, zwischen die nicht viel mehr als eine Haarsträhne passte. "Aber ich habe euch auch nur um einen Hauch verpasst."
Mir kam sofort das Szenario in den Kopf, als wir dem Auto nur knapp ausgewichen waren. Angst erfüllte erneut meinen Körper und ich konnte den Luftrausch beinahe erneut an meinem Kopf spüren. Es hätte nicht viel gefehlt und wir wären schwerverletzt im Straßengraben gelegen.
"Das warst du?", fragte ich mit zittriger Stimme, die in den Geräuschen des Waldes unterzugehen schien.
"Nicht nur das", erwiderte Pauline und reckte ihr zierliches Kinn, als wolle sie uns damit ihre Überlegenheit signalisieren. Sie drehte das Messer zwischen ihren langen Fingern. "Es geht viel mehr auf mein Konto."
Dieser Satz ließ mich schlucken und mein Herz noch mehr Blut durch meinen Körper pumpen. Insgeheim betete ich, dass sie damit nicht das meinte, woran ich gerade dachte. Meine Muskeln spannten sich an und ich drückte Tristans kalte Hand fester. Er rührte sich nicht, sondern starrte Pauline an, die uns nicht aus den Augen ließ.
"Bitte nicht", hauchte ich, als Davids Schwester den Mund öffnete.
Aber diese hatte den Satz schon ausgesprochen. "Ich war es, die vor über sechzehn Jahren Yasmin getötet hat."
Jegliches Blut wich aus meinem Kopf und plötzlich fühlte sich mein ganzer Körper leer und kalt an. Mein Herz schien in einem Hohlraum zu klopfen, denn jeder Herzschlag ging mir durch Mark und Bein. Die bebenden Atemzüge ließen mich zittern und als ich in Paulines hämisches Gesicht blickte, wurde mir beinahe schwarz vor Augen. Um nicht dem Drang nachzugeben und kraftlos auf den Waldboden zu sinken, hielt ich mich an Tristans Oberarm fest. Meine Füße fanden keinen Halt mehr und ich wäre fast ausgerutscht, als ich einen Schritt nach hinten machte, wenn Tristan mich nicht im richtigen Moment gestützt hätte.
Ich schloss ein paar Sekunden lang die Augen. In mir rumorte mein Magen und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Doch ich holte rasselnd Luft und versuchte, den bitteren Geschmack in meinem Mund hinunterzuschlucken.
Das Eis, das sich langsam einen Weg durch meinen gesamten Körper zu bahnen schien, erreichte nun auch meine Wangen. Ehe ich sie zurückhalten konnte, löste sich eine Träne aus meinem Auge und mit ihr ein Teil der Trauer, Wut und Enttäuschung der vielen Jahre. Jahre, die ich nicht mit einer großen Schwester verbracht hatte.
Ich spürte die Machtlosigkeit, die ich stets gefühlt hatte, wenn Mama abends allein am Küchentisch gesessen hatte, ein Foto ihrer verstorbenen Tochter in der Hand. Und die Verzweiflung, weil ich in diesen Momenten alles getan hätte, um sie zu trösten und schöne Erinnerungen an Yasmin zu wecken. Die Gefühle, die nun alle auf mich einströmten, hatten eine größere Bandbreite als ein Theaterstück. Wie ein Strudel umgaben sie mich und ich stand hilflos im Zentrum, den Blick zum Himmel gerichtet, wo sich soeben eine Wolke vor den Mond schob.
Meine Augen brannten vor Verlangen danach, mehr Tränen zu weinen, aber ich biss mir so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmeckte.
In meinem Kopf hörte ich noch einmal Paulines Satz und jede Silbe hämmerte gegen meinen Schädel, als wolle sie sich gewaltsam daraus befreien. Der Schmerz, den die Worte in mir auslösten, ließ mich Pauline anschauen. In ihren Augen sah ich nur ein einziges Gefühl: abgrundtiefen Hass.
Ihr schmales, weiblich geformtes Gesicht war verzerrt und der Blick, den sie mir zuwarf, triefte vor Missgunst und Abneigung. Tiefe Falten standen auf ihrer Stirn und ihre Lippen waren angespannt. Die nächsten Sätze, die aus ihrem Mund kommen würden, würde sie mir regelrecht ins Gesicht spucken.
Sie war nicht die Pauline, die ich kannte, die erfolglose Autorin, die für ein paar Almosen schrieb und mich herzlich in ihrem kleinen, nach Kaffee riechendem Büro empfangen hatte. Es war nicht die Pauline, die von morgens bis abends einen Stift zwischen den Fingern hielt und ihren Bruder mit dem Erledigen des Papierkrams half. Es war die Pauline, die einen Menschen umgebracht hatte. Meine Schwester.
Mein Blick fiel auf das Messer, das die ehemalige Freundin meiner Mutter so fest umklammert hatte, dass die fragilen Knochen unter ihrer dünnen Haut hervortraten. Es zitterte beängstigend, als Pauline hörbar ausatmete.
"Was mache ich nun mit euch?" Ihre Worte waren entgegen meiner Erwartungen leise und beinahe sanft. Aber dahinter schwang ebenfalls die Mühe mit, die es sie kostete, ruhig zu bleiben. Ihre Stimme klang tiefer und kehliger als sonst und ich drückte meine Arme enger an meinen Körper heran.
Ich wagte es nicht, Pauline ein weiteres Mal anzusehen. Zu groß war die Angst, in ihrem Gesicht die Dinge zu entdecken, zu denen sie fähig war und vor denen sie nicht zurückschreckte. Aber allein ihr Luftholen genügte, um die Kälte in mir noch zu steigern.
Meine Hände fühlten sich wie Eiskristalle an und hatten sich wie Krallen in Tristans Oberarme gebohrt. Angst kroch meinen Rücken hinauf und hielt mich mit jedem Augenblick stärker in ihren Fängen. Wie eine Krankheit, die mich nach und nach von innen aufzufressen schien.
Der Drang, einfach wegzulaufen und mich in die schützenden Arme meiner Großeltern zu werfen, wuchs mit jeder verstrichenen Sekunde. Aber der Gedanke, an das fast ellenbogenlange Messer hielt mich zurück. Denn es war nicht nur in der Lage, ein Steak zu schneiden, sondern auch einen Menschenkörper zu durchbohren.
Angewidert von diesem Gedanken rückte ich näher an Tristan heran. Dessen Atem ging flach und er ließ Pauline keine Sekunde lang aus den Augen, während es mir bei dem Gedanken daran, Davids Schwester auch nur anschauen zu müssen, flau im Magen wurde.
"Ich bin die Mörderin, nach der ihr gesucht habt", sagte Pauline langsam, als genieße sie den Klang jedes Wortes. Das Lächeln, das dabei um ihre Mundwinkel tanzte, konnte ich beinahe vor meinem inneren Auge sehen.
Yasmins Mörderin. Nicht einmal vier oder fünf Meter trennten mich von ihr. Da stand diejenige, der ich alle nur erdenklichen Flüche an den Kopf geworfen hatte, wenn Mama mal wieder unglücklich gewesen war. Was hatte Pauline nur dazu gebracht, eine so grausame Tat zu begehen? Wie konnte ein Mensch zu so etwas fähig sein, obwohl mit meiner Mutter befreundet gewesen war?
"Die vielen Jahre über habe ich mich ja ganz passabel geschlagen, wenn man bedenkt, dass die Polizei mir trotz ausführlicher Ermittlungen nicht auf die Spur gekommen ist", fuhr Pauline fort und schnalzte mit der Zunge. "Vielleicht hättet ihr es geschafft, wer weiß? Das Risiko ist mir mittlerweile jedoch zu groß geworden."
Sie ließ den Satz im Raum stehen und ich schluckte. Ich musste an die Zeitungsartikel denken, die den Mord an meiner Schwester beschrieben hatten. Wie schrecklich die Zeit für meine Familie gewesen sein musste, wie es alle Betroffenen zermürbt hatte. So vollkommen zu Grunde gerichtet, dass sich sogar mein Vater das Leben genommen hatte.
Die Tatsache, dass die Person, die meine Familie in dieses Übel gestürzt hatte, zum Greifen nahe stand, löste etwas in mir aus, das ich bisher noch nie gefühlt hatte. Es waren Ekel vor ihr und dem Blut, das an ihren Fingern haftete, Verbitterung und Hass. Zum ersten Mal wollte ich jemandem wirklich das zurückgeben, das er mir angetan hatte.
Dass ich so fühlte, erschreckte mich und ich zwang mich, das Kinn zu heben, um Pauline wenigstens zu signalisieren, dass ich mich nicht einschüchtern ließ. Mein Blick wanderte zum Himmel hinauf und ich betete stumm dafür, dass Tristan und ich alles heil überstehen würden.

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt