Kapitel 43

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"Wieso hast du Yasmin umgebracht?", brachte ich schließlich über die Lippen, nachdem sich bedrohliche Stille über uns gesenkt hatte.
"Berechtigte Frage", bemerkte Pauline. "Aber deshalb nicht einfacher zu erklären."
"Das bist du mir schuldig. Meine ganze Familie ist wegen dir zerbrochen. Yasmin und mein Vater sind tot, meine Mutter setzt keinen Fuß mehr ins Dorf und Opa und Oma ertragen es nicht, darüber zu reden." Die Wörter sprudelten nur so aus meinem Mund, als hätten sie nur darauf gewartet, ausgesprochen zu werden.
Pauline gab lediglich ein Schnauben von sich. "Ich bin dir gar nichts schuldig."
Dieser Satz ließ mich endlich aufschauen und ich blickte der Mörderin meiner Schwester direkt in die Augen, die gefährlich glänzten. Dass sie mir eine Erklärung für das Leiden meiner Familie verweigerte, trieb mich beinahe zur Weißglut. Das Eis, das mich zuvor hatte erstarren lassen, schmolz nun dahin. Ich hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen und spürte die Hitze in meinen Adern und auf meiner Haut. "Dann möchte ich wenigstens den Grund wissen. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, mehr über Isabelles Schwester herauszufinden", mischte sich Tristan ein und drückte mich sanft, aber bestimmt mit dem Arm nach hinten.
Ohne ihren Blick von mir abzuwenden, nickte Pauline. Sie befeuchtete sich die Lippen und drehte das Messer ein Mal zwischen den Fingern. Damit war sie uns eindeutig überlegen und das wusste sie auch. Ich konnte es an dem gehässigen Grinsen ausmachen, das sich nun auf ihr sonst so feminines Gesicht schlich.
"Hör auf, mich anzustarren, als würdest du mir am liebsten jeden Moment eine Kugel in den Kopf jagen", forderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, nicht ohne fast zärtlich mit dem Zeigefinger über die Klinge des Messers zu streichen.
"Tu, was sie sagt", flüsterte Tristan.
"Da hat er recht", mischte sich Pauline ein und bedachte mich mit einem vernichtenden Blick, der ganze Städte in Schutt und Asche legen könnte. "Ansonsten spiele ich dieses Spiel schneller zu Ende, als euch beiden lieb ist."
Die Aussage löschte das Feuer, das in mir brannte, augenblicklich und ich schaute zu Boden. Angst kroch meine Wirbelsäule hinauf und ich zog den Kopf ein. Pauline besaß das Messer, sie saß am längeren Hebel. Und wir mussten uns dringend etwas einfallen lassen, um das Ruder herumzureißen.
"Geht doch", kommentierte Pauline spöttisch und gab einen zufriedenen Laut von sich. Dann räusperte sie sich. "Ich weiß nicht genau, wann alles angefangen hat. Aber David und ich waren schon immer unzertrennlich. Von Kindesbeinen an hatten wir dieselben Freunde und ich, seine ältere Schwester, habe mich fast wie eine Mutter um ihn gekümmert. Wo ich war, war auch er nicht weit. Yvonne war lange meine beste Freundin und mit der Zeit hat sich David in sie verliebt. Zuerst habe ich es für eine kleine Schwärmerei gehalten und nicht geglaubt, dass er es tatsächlich ernst meint. Aber als ich es realisiert habe, habe ich alles in meiner Macht stehende getan, um ihm eine Beziehung mit ihr zu ermöglichen. Stundenlang haben David und ich nebeneinander gesessen, ein Blatt Papier und einen Stift vor uns, und versucht, einen Liebesbrief zu formulieren. Das heißt, David hat ab und zu etwas gesagt und ich den Brief geschrieben. Er war noch nie sehr wortgewandt, aber ich habe ihm diese Arbeit eigentlich fast vollständig abgenommen."
Auf einmal ging mir ein Licht auf und ich hätte mir am liebsten mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen. Die Wortwahl, in der der Brief verfasst worden war, hatte mich bereits beeindruckt, als ich ihn das erste Mal gelesen hatte. Allein die Umschreibung und Vergleiche waren beinahe unübertrefflich. Und wer könnte einen solchen Text besser schreiben, als eine Liebesromanautorin?
"Umso mehr bereue ich es, dass David nie den Mut hatte, Yvonne den Brief tatsächlich zu geben. Das war lange mein literarisches Meisterwerk und obwohl ich ihn so oft versucht habe, zu überreden: David hat seine Meinung nicht geändert und wollte ihn ihr nicht schicken." Nun klang Paulines Stimme tatsächlich bedauernd.
Unmerklich schüttelte ich den Kopf. Was Pauline da erzählte, klang so einleuchtend und wir hatten es nicht geschafft, die richtigen Zusammenhänge zu knüpfen.
Es wäre alles so einfach, so logisch gewesen und umso mehr ärgerte ich mich, dass es mir nun wie Schuppen von den Augen fiel.
"Aber von dem Brief dürftet ihr sowieso schon wissen, oder?", fragte Pauline und ihre Stimme klang scharf.
"Ja", sagte Tristan ohne zu zögern.
"Das habe ich mir gedacht. Normalerweise achte ich wirklich sehr genau darauf, in welcher Reihenfolge ich die Ordner ins Regal sortiere. Vor allem auf den Brief gebe ich besonders Acht. David rührt nie etwas an und als ich davon gehört habe, dass ihr mir auf der Spur seid, war mir alles klar", meinte Pauline und ich spürte ihren scharfen Blick auf meiner Haut. "Nun aber zurück zu Davids ersten Gefühlen für Yvonne. Obwohl wir alle dachten, dass diese wieder verschwinden, haben sie das nicht getan. Yvonne hat ihn eher als kleinen Bruder betrachtet. Natürlich habe ich mehrmals versucht, die beiden miteinander zu verkuppeln, aber geklappt hat es leider nicht. Vor allem, weil Yvonne schon immer davon überzeugt war, dass es nur einen Mann in ihrem Leben geben wird. Aus ihrer Sicht war das jedenfalls nicht David.
Nach dem Abitur haben sich unsere Wege getrennt. Yvonne ist in die Stadt gezogen und ich habe mir gewünscht, dass mein Bruder endlich von seiner Liebe zu ihr loskommt. Eine Zeit lang schien es sogar zu klappen und er hat es auch ein paar Mal mit anderen Frauen probiert. Allerdings hat keine Beziehung mehr als einige Wochen gehalten.
Aber dann ist deine Mutter ins Dorf zurückgekehrt. Jedoch nicht allein sondern mit deinem Vater an ihrer Seite. Und wenig später wurde Yasmin geboren.
Zuerst dachte ich, David wäre längst über seine Jugendliebe hinweg, aber er konnte einfach nicht loslassen. Er war gut mit deiner Mutter befreundet und je mehr Zeit verging, desto stärker schien seine Liebe zu werden. Sein einziger Wunsch war es, dass Yvonne endlich für ihn Gefühle entwickelte. Für ihn zählte nur Yvonne, tagein, tagaus. Und ich musste zusehen, wie er an seiner Liebe mehr und mehr zerbrach.
Wir waren immer ein Herz und eine Seele gewesen und ich wollte alles tun, um ihn glücklich zu machen. Koste es, was es wolle."
Wie gebannt hing ich an Paulines Lippen. Obwohl der Brief aus ihrer Feder stammte, hatte er mir doch einen Eindruck von Davids Liebe gegeben. Diese schien wirklich riesig gewesen zu sein.
"Yvonne war all die Jahre über zu seinem wichtigsten Lebensinhalt geworden, doch ich hatte es mir immer wieder ausgeredet, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Ich hatte es nur für eine dämliche Schwärmerei gehalten, aber durch den Wunsch, David glücklich zu machen, wurde sein Lebensinhalt plötzlich auch zu meinem.
Nächtelang überlegte ich, wie ich David zu der wichtigsten Person in Yvonnes Leben machen konnte. Die beiden waren lediglich gut befreundet. Aber für eine Beziehung stand zu viel im Weg. Durch Streitereien ließen sich deine Eltern nicht auseinander bringen. Denn es gab etwas, was sie stärker zusammenband, als Liebe allein: ihr gemeinsames Kind. Mir wurde klar: Wenn David tatsächlich etwas bei ihr erreichen wollte, dann musste Yasmin zuerst weg."
Ein Schaudern durchlief meinen Körper. Die Entschlossenheit, mit der Pauline die Sätze aussprach, zeigte ein weiteres Mal, zu was sie alles bereit war. Und alles nur, um den größten Wunsch ihres Bruders zu erfüllen.
"Yasmin war das stärkste Bindeglied zwischen ihnen und mir war klar, dass es einfacher sein würde, deine Eltern zu trennen, sobald ich sie aus dem Weg geschafft hatte. Deshalb beobachtete ich monatelang die Gewohnheiten deiner Eltern. An welchen Tagen sie mit Yasmin zum Spielplatz gingen und an welchen sie ihre Tochter allein gehen ließen.
Durch den regelmäßigen Kontakt zu deiner Familie gewann auch Yasmin Vertrauen zu mir", fuhr Pauline fort und ich wagte es, sie für einen Moment anzusehen. Ihr Blick war über uns hinweg, in die Ferne, gerichtet und sie lächelte, als sei sie stolz darauf, wie gut sie alles geplant hatte.
Das Lächeln löste einen Würgereiz in mir aus und ich hustete, während ich mir die Hand vor den Mund hielt. Die Unmenschlichkeit und Gefühlslosigkeit, mit der sie damals gehandelt hatte, hätte ich ihr niemals zugetraut.
"Es gab nur ein Problem", meinte Pauline. "Niemand wusste, dass Yvonne schwanger war."
Bei diesen Worten empfand ich fast schon Genugtuung, weil es einen kleinen Fehler in Paulines ausgeklügeltem Plan gegeben hatte.
Diese machte eine kurze Pause, bevor sie wieder Luft holte. "Yvonne hatte niemandem verraten, dass sie schwanger war. Sie hatte zu dieser Zeit sowieso eine Vorliebe für weite Kleidung und niemandem fiel etwas auf. Manchmal hat sie Scherze darüber gemacht, dass sie zu viel gegessen hätte, aber trotzdem hat keiner etwas geahnt. Es sollte wohl eine Art Überraschung werden. Die ist ihr auch sehr geglückt, muss ich sagen.
Jedenfalls wurde mir langsam klar, dass es immer schwieriger werden würde, Yasmin verschwinden zu lassen, je älter sie wurde. Als sie deshalb Anfang Oktober allein auf dem Spielplatz war, habe ich die Chance genutzt."
Ich wusste, was nun folgte und kniff die Augen zusammen. Vor mir konnte ich wieder die Bilder in den Zeitungen sehen. Bilder, auf denen Yasmin noch glücklich lächelte und bei denen man sich fragte, wie man einem Kind etwas so Grausames zufügen konnte. Pauline musste wirklich besessen von dem Wunsch gewesen sein, ihrem Bruder diesen einen Traum zu erfüllen. In meinem Bauch rumorte es und ich zwang mich, gleichmäßig zu atmen.
"Alles verlief problemlos. Niemand sah mich und Yasmin kam bereitwillig mit mir, als ich ihr sagte, dass ihre Mutter mir aufgetragen hätte, sie mit nach Hause zu nehmen. Ich habe ihr auch eine heiße Schokolade versprochen. Für Yasmin war damit alles in Butter. Sie hat ihren Ball genommen und ist mir zum Auto gefolgt. Kein einziges Mal hat sie nachgefragt, die meiste Zeit über hat sie geredet. Auch als wir eine halbe Stunde lang gefahren sind und bei einer Landstraße ausgestiegen sind, ist sie nicht misstrauisch geworden."
Mir kamen die Tränen. Die Szenen liefen wie ein Film vor mir ab und ich sah Yasmins lachendes Gesicht, wie sie fröhlich neben Pauline herhüpfte und mit ihrer hohen Kinderstimme von Dingen erzählte, von denen nur Kinder sprachen. Sie hätte noch so viele Lebensjahre vor sich gehabt, hätte noch so viel Freude am Leben haben können.
"Und dann", sagte Pauline, "habe ich meine Hände um ihren Hals gelegt und so lange gedrückt, bis ihr Körper erschlafft ist."

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt