11. Ich will dir eine Geschichte erzählen

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Meine Gedanken übeschlugen sich, meine Hand krallte sich an dem Küchentisch fest und ich hatte Mühe stehen zu bleiben. Seine Worte hatten mir gerade klar gemacht, dass es sich bei dem Mann um meinen und nicht seinen Vater handelte.

Er stand dort, sah mich an und lächelte. Er lächelte, als wäre nichts gewesen. Die Situation war fast lächerlich und dennoch drehte sich mein Magen um. Mir wurde schlecht. Schlecht vom Anblick des Mannes vor mir, schlecht von dem Essen auf dem Tisch und schlecht von der Situation. Ich konnte mich nicht bewegen und starrte einfach ins Nichts. Ich atmete viel zu flach, denn es fühlte sich an als ob meine Lunge in Flammen stehen würde.  Mein Gehirn funktionierte nicht mehr und mein Magen verknotete sich komplett. Tränen sammelten sich in meinen Augen und der Kloß in meinem Hals wurde größer. Ich war bloß gestellt. Ich war verletzlich. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle.

"Morgen."

Seine Lippen bewegten sich, doch ich konnte seine Stimme nicht hören. Ich wusste was er sagte und dennoch begriff ich es nicht. Mein Kopf drehte sich zu Jonathan. Er war halb neben, halb hinter mir, hatte eine Hand auf meinen Rücken gelegt und schob mich vorsichtig aus der Küche. Immer noch war mein Gehirn zu langsam um zu realisieren was passierte, als ich die Treppe hoch getragen wurde, im nächsten Moment mit dem Gesicht über der Klohschüssel hing und mich übergab. Dahin war mein Stolz und meine gute Laune. Dahin war meine Würde und vor allem meine Selbstachtung. Der bittere Geschmack in meinem Mund und mein flaues Magengefühl warfen mich zurück in die Realität, als ich erneut würgen musste. Jonathan hielt mir tapfer die Haare aus meinem Gesicht und sorgte dafür, dass ich stabil über dem Klo hing. Ich fühlte mich elend, konnte die Tränen nicht zurück halten. Allerdings war meine Übelkeit nun vorüber. Jonathan half mir hoch, ich spühlte meinen Mund aus und putzte mir die Zähne. Die ganze Zeit über hielt er mich an meiner Hüfte fest, was überaus hilfreich war, da meine Beine sich wie Pudding anfühlten, damit ich nicht umfiel.

"Danke", brachte ich krächzend hervor und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Er hatte mittlerweile auch die Klospühlung gedrückt und öffnete auf akrobatische Art und Weise das Badezimmerfenster.

"Kein Ding. Aber du brauchst jetzt Ruhe." Bevor ich überhaupt einen Gedanken an das Protestieren verschwenden konnte hing ich erneut in der Luft und wurde in mein Zimmer getragen. Ich musste mich komplett sortieren als ich halb auf meinem Bett, halb in seinem Arm lag. Gefühlte zehn Minuten musste ich mich darauf konzentrieren vernünftig zu atmen und einen klaren Kopf zu bekommen.

"Du bist immer noch da", stellte ich nüchtern fest und drehte mich zu ihm. Er hatte die Augen geschlossen und ein leichtes Lächeln lag auf Lippen. "

Scheint wohl so", gab er eben so nüchtern zurück, weshalb ich mein Gesicht von ihm weg drehte.

Ich nuschelte leise: "Danke."

Da er nichts sagte, drehte ich meinen Kopf erneut zu ihm. Seine Augen waren nun geöffnet und schimmerten leicht. Es sah unsicher aus, nahe zu verwirrt. Dennoch strahlte er mich an, als könnte er damit all meine Tränen weg lächeln. Dann zog er mich an sich und ich fand mich in einer meiner ersten Umarmungen wieder.
Es war schön sich so geborgen zu fühlen.
Es war wundervoll diese Wärme zu spüren.
Es war gut, dass ich ihn an mich heran ließ. Allerdings machte es mir Angst und das war nicht gut.

"Wir müssen ab jetzt sowieso mit einander klar kommen. Und ich mag dich, du bist etwas besonderes. Also Kopf hoch, das kann jedem mal passieren."

Ich nickte, versuchte nicht zu sehr nach zu denken.

"Ich will dir eine Geschichte erzählen", platzte es aus mir heraus, weshalb er mich verwundert ansah.

"Es war einmal, vor nicht all zu langer Zeit, ein Kind. Es wurde mitten im Winter geboren. Alles war weiß,  kalt und eingeschneit. Die Erde schien zu schlafen. Für diesen einen Augenblick, in dem die Erde nicht aufpasste, war alles perfekt. Doch das Kind hätte nie geboren werden sollen, das wussten auch die Eltern. Das Kind gehörte nicht in diese Welt, genauso wie der Vater des Kindes. Als die Jahre vergingen wurde es immer deutlicher, dass das Kind nicht in diese Welt gehörte. Je länger es an einem Ort war, desdo schlimmere Dinge geschahen. Die Eltern des Kindes trennten sich, der Vater musste wieder gehen. Er gehörte nun einmal nicht in diese Welt. Dennoch, das Kind konnte auch er nicht mit sich nehmen. Es gehörte genauso wenig in seine Welt. Und je älter das Kind wurde umso schlimmer wurde alles. Es war immer allein, redete wenig und hielt abstand von allem. Selbst die Mutter konnte nichts machen, doch sie interessierte es auch nicht wirklich. Sie hatte eingehen, dass das Kind nicht normal war. Und so wurde dieses Kind auch behandelt. Allein, verlassen, aber immer noch stark.  Es lernte zu kämpfen, lernte mit dem Schmerz um zu gehen und schwor sich, dass diese Welt eines Tages bereit sein würde um es zu akzeptieren. Bis dahin wandelt das Kind, mittlerweile fast erwachsen, allein in der Dunkelheit."

Es war lange leise, ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren, als ich wartete. Dann zog er mich enger an sich und holte zitternd Luft.

"Das Kind in der Geschichte, wie geht es ihm momentan?" Es war so eine simple Frage und dennoch machte sie mich sprachlos. Wie ging es dem Kind?  Wie ging es ihm? 

"Jetzt in diesem Moment gut. Es sieht ein Licht im Tunnel", ich lächelte wärend ich das sagte. Dann ließ Jonathan mich los und stand auf.  Er drehte sich zu mir und sah mich an. 

"Das ist gut", sagte er lächelnd, "ich denke, dass das Kind nur einen guten Freund brauchst, was meinst du?" Er streckte die Hand nach mir aus und zog mich sachte auf die Beine.

"Ja, das Kind war zu lange allein", flüsterte ich und vergrub mein Gesicht in seiner Brust. Ich war zu lange allein gewesen, viel zu lange.

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