1. Angst

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»Das Leben ist wie Fahrradfahren! Um Balance zu halten muss man in Bewegung bleiben!«

Die Nacht war eisig kalt. Ich wusste nicht wo wir waren, doch das war nichts besonderes mehr. Seit Wochen schon irrten wir in diesem fremden Land herum, ohne uns auszukennen nur mit dem Gedächtnis meiner Großmutter als Führer. Doch das schlimmste war, dass wir nur beim Dunkeln weitergehen konnten. Gedeckt vom Schatten der Nacht. Es fiel mir schwer so zu Leben. So lange war ich der glückliche und unbeschwerte Sohn in einer reichen Familie gewesen. Nun war ich nichts von alle dem mehr. Ich war nicht mehr glücklich und schon garnicht unbeschwert. Meine Familie war nicht mehr reich und ich konnte nicht mehr Kind sein. Ich musste unserem Vater helfen unseren kleinen jämmerlichen Trupp zu stärken und zu ernähren. Ich musste meiner Schwester Hoffnung geben, obwohl ich meine schon längst verloren hatte. Vorbei waren die Tage an denen ich mit meinen Freunden aus der Stadt meine Kräfte gemessen hatte, an denen ich mit ihnen auf der Straße Fußball gespielt hatte und in die Schule gegangen war. Ich beschwerte mich nicht, meine Eltern oder all die anderen konnten ja auch nichts für unseren jetzigen jämmerlichen Zustand. Es konnte nur einer etwas dafür und diesen hasste ich so sehr, dass es weh tat. Der Vollmond tauchte die Häuser an denen wir vorbeigingen in milchiges Licht. Neben mir hustete meine kleine Schwester. Ich erschrak. Ich wusste, dass es lächerlich war, doch ich hatte Angst auch sie noch zu verlieren. Sie war alles was ich noch hatte und ich wollte sie beschützen vor all dem schrecklichen auf der Welt. Sie bewahren vor den Geheimnissen die sie zerstören würden und ich wollte die Verluste die wir erlitten hatten vor ihr geheim halten. Damit sie wieder das glückliche Mädchen Werden konnte, dass sie einst vor all dem gewesen war. Ich legte einen Arm um sie. Dankbar schmiegte sie sich an mich. Hinter mir hörte ich das Schluchzen einer jungen Frau. Ich wusste, ohne mich umzudrehen, dass es Lucy gewesen war. Lucy hätte eigentlich nicht weg gemusst. Denn sie war nicht wie wir. Sie war nicht anders. Doch sie hatte einen Anderen geliebt. Und sich so in unsere Familie eingeschlichen. Das war nicht schlimm, wir mochten sie alle. Vor allem Samuel hat sie gemocht, ach was gemocht. Er hat sie geliebt und sie ihn. Doch wir wussten alle nicht was mit Samuel war. Niemand hatte ihn gesehen seit er verschleppt worden war. Genauso wenig wie meinen Großvater Benjamin. Wahrscheinlich sind sie tot. Ich hoffe das sehr für sie. Mein Vater sagt immer lieber ist man tot, als das man gefoltert würde. Und ich stimme ihm sehr zu. Für Lucy war die Reise hier hin noch schlimmer als für uns gewesen. Denn sie hatte Lucy ihre gesamte Kraft geraubt. Das wahrscheinlich daran lag, dass sie normalerweise für zwei essen müsste. Lucy war schwanger. Und sie trug in sich das Kind von Samuel. Samuel, der anders war. „ Willst du eine Pause machen?", fragte die tiefe gutmütige Stimme meines Varers. Lucy nickte und lies sich einfach auf den schmutzigen Boden fallen. Meine Mutter zog ihr riesiges Halstuch aus und schob es Lucy unter den Po. Lucy warf einen dankbaren Blick auf meine Mutter, der Bände sprach. Wahrscheinlich war sie einfach zu schwach um zu reden. Ich hatte nie verstanden für welchen Zweck man so ein riesiges Halstuch brauchte, doch nun hatte es sich wohl doch als ziemlich brauchbar erwiesen. Danach ließ sich nun auch meine Großmutter auf das Tuch fallen. Unter ihren Augen zeichneten sich schwere Augenringe ab. Sie musste damit leben, dass sie ihren Ehemann und ihren Sohn wohl nie wieder sehen würde. Sie versuchte nicht zu weinen, wollte stark sein. Doch ich hatte sie schon einige Male dabei beobachtet wie sie gedacht hatte wir würden alle schlafen und angefangen hatte in ihr Stofftaschentuch zu trompeten . „Du kannst dich freuen, liebes", sagte sie, „Ich erkenne dieses Städtchen wieder. Wir haben unser Ziel fast erreicht" Mein Herz macht einen Satz nach vorne. Ich wusste, dass das keine billige Aufmunterungslüge war, denn meine Oma strafte Lügner und ehrte ehrliche Menschen. Das Problem war nur, dass ich nicht den blassesten Schimmer hatte was das Ziel unser Reise war. Meine Großmutter und mein Vater hatten Stillschweigen bewahrt. Mein Vater wusste selber glaube ich nichts genaues, nur meine Oma war selber schon mal dort gewesen. Vor etlichen Jahren. Deshalb war sie ja auch so zu sagen unsere Landkarte. „Omi?", fragte meine Schwester,„Wohin gehen wir eigentlich hin?" „Zu einer guten Freundin von mir!", sagte meine Oma etwas schnippisch und bedeutete uns damit das keine weiteren Fragen erwünscht waren. Ich wusste, das meiner Schwester noch tausend andere unbeantwortete Fragen auf der Zunge brannten, doch sie nickte nur eingeschüchtert. Meine Mutter reichte Lucy noch etwas Wasser und schlug dann den Aufbruch vor. Wir willigten mit einem Seitenblick auf Lucy ein. Lucy nickte nur gequält und rappelte sich langsam auf. Während meine Schwester das Tuch zusammenfaltete schöpfte meine Großmutter neue Kraft. Sie marschierte vorweg und murmelte irgendetwas davon, dass sie heute gerne noch ankommen würde. Wir folgten ihr, etwas langsamer, denn das Baby in Lucy's kugelrundem Bauch hatte wohl gerade gefallen am treten gefunden. Absolut still liefen wir weiter, wenn man das unterdrückte Stöhnen von Lucy nicht beachtete. In der Ferne hörte ich eine Kirchenglocke läuten. Sie verkündete, dass wir drei Uhr nachts hatten. Der Klang der Glocke hörte sich anders als zu Hause. Wir liefen vorbei an Häusern mit riesigen Gärten. In unserer Heimatwaren die Gärten nicht mal halb so groß gewesen. Die Geschäfte trugen seltsame Namen und an denen zahlreichen Litfaßsäulen hingen bunte Plakate, die etwas neues buntes verkündeten. Da die Slogans in einer anderen Sprache waren, verstand ich sie nicht. Doch weil auch Bilder da waren, erkannte ich, dass es vermutlich etwas mit Bonbons zu tun hatte. Wir liefen an einer Apotheke vorbei und bogen in eine Allee ein. Links und rechts standen mächtige Kastanien. Die Häuser hatten bunte Fassaden mit Fensterläden. Meine Großmutter war nun ziemlich aufgeregt. Sie munterte uns mit ihrer derben Art auf und verteilte Küsse an die jenigen die über ihre unlustigen Witze lachen mussten. Und ab und zu sah sie traurig in mein Gesicht. Ich weiß warum. Warum sie ausgerechnet mich traurig ansah. Es war wegen meinen Augen. Niemand hatte meine Augen, außer meinem Großvater, ihrem Mann, den sie so geliebt hatte. Ihrem Mann der nun nicht mehr war, der in eine andere Welt gegangen war, von der kein Lebender berichten konnte. Wir gingen einen Hügel hinauf, ich atmete schwer, doch ich beschwerte mich nicht, obwohl die Sohle meiner Schuhe schon so durchgelatscht war das es keinen Unterschied machen würde, wenn ich barfuß gegangen war. Ich wollte ein gutes Vorbild für meine kleine Schwester Rebecca sein. Als wir oben auf dem Hügel ankamen blieb meine Großmutter so abrupt stehen, dass ich in sie hineinlief. Ich ärgerte mich ziemlich darüber, doch als meine Oma mit zitternden Fingern auf ein schönes Haus deutete, erkannte ich, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Meine Oma stieß mit der linken Hand das weiße Gartentor auf. Es quietschte so laut, dass ich Angst bekam es würde die Nachbarn wecken. Das Haus was ich dann sah war das schönste was ich gesehen hatte. Es war groß und blau und besaß weiße Fensterläden und ein weinrotes Dach. Darum war ein riesiger Garten der von einem weißen Gartenzaun umrandet wurde. Ich ließ meinen Blick zum wiederholten Male über das Haus gleiten. Hinter einem Fenster sah ich kurz rotes Haar und ein paar rehbraune Augen aufblitzen. Ich blinzelte, doch als ich noch ein mal herschaute war alles dunkel. Ich trat näher an das Haus heran. Vor der Veranda war ein großer Stein, der wie ein Grabstein ausschaute. Hinter dem Haus kam noch mehr Garten, doch dahinter floss auch ein kleiner Fluss. Das silbrige Mondlicht spiegelte sich im Wasser. Ein kleines Boot war mit Tau an einem Steg befestigt. Schwer atmend stieg meine Oma die Treppe der Veranda hoch. Wir andern folgten ihr. An der Tür war ein goldener Türklopfer befestigt. Meine Oma zögerte doch schließlich betätigte sie ihn. Es dauerte bis jemand öffnete, doch schließlich hörten wir doch ein Klicken im Türschloss. Ein alte Frau im Alter meiner Großmutter öffnete die Tür. Meine Großmutter umarmte sie und schluchzte laut. Ich hatte meine Omi noch nie Schluchzen gehört. „Eva", heulte sie auf, „Eva" Die Frau wusste zuerst glaube ich nicht wen sie da vor sich hatte. Doch dann schien sie meine Oma zuerkennen. Sie fing nun auch an zu schluchzen und murmelte:„ Clara, Clara du hast überlebt!" Es wunderte mich, dass die Frau deutsch sprach. Sie bat uns herein und ein wunderbarer Geruch von Essen flog mir entgegen. Mir wurde schlecht vor Vorfreude heute etwas Vernünftiges Essen zu dürfen und vielleicht ein paar roten Haaren und braunen Augen begegnen zu dürfen.

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⏰ Last updated: Nov 06, 2016 ⏰

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SchattenjägerWhere stories live. Discover now