Protest.
Hat sie sich spiegelverkehrt auf ihre Stirn geschrieben, mitten zwischen pubertäre Pickel, fettigen Haaransatz und dichte, beinah schon buschige Augenbrauen. Die schwarze Eddingfarbe ist ein wenig verlaufen, aber das macht nichts. Denn wenn sie in den Spiegel schaut, kann sie selbst es immer noch lesen.
Das ist wichtig. Was andere Menschen von ihr denken, ist nicht wichtig, findet sie. Sie findet viel.
Zum Beispiel Portmonees und Smartphones in den Taschen fremder Leute im atemlosen Gedränge der U-Bahn.
Oder Gefallen an leidenschaftlichem Nihilismus, wirren Widersprüchen und selbstgedrehten Kippen. Dabei wäre sie gern gleichgültig, das würde vieles erleichtern. Eigentlich ist doch alles egal, nicht wahr? Trotzdem:
Da gibt es diese Zigarettentagträume, die durch ihren Kreislauf zirkulieren und ihre Adern mit Dreck verstopfen.
Vor allem nachts, wenn sie allein in der Mitte ihres Zimmers sitzt und durch die großen Dachfenster den Himmel sehen kann. Von hier aus betrachtet sieht es so aus als schwebe der Mond an einem durchsichtigen Band, wie ein Windspiel. Mit ihren dürren Fingern bildet sie eine Schere: ,,Schnipp schnapp".
Aber der Mond fällt nicht, sondern öffnet nur stolz seine Schattenaugen. Hier oben auf ihrem Dachboden ist es chaotisch. Eine alte Matratze liegt in der Ecke, daneben stapeln sich Bücher, Papierfetzen, schmutziges Geschirr, Kleidungsstücke, Kerzen .Auf der Tapete kleben mindestens zwei Schichten sonderbarer Poster. Hundewelpen neben nackter Haut, Popstars neben Oldtimern. Dazwischen hängt ein riesiger, schmutziger Spiegel. Sie sieht sich ins Gesicht, während sie isst. ,,Himbeeren schmecken nach Sommer", flüstert sie, dabei ist es eigentlich schon fast Herbst. Lächelnd deutet sie auf ihr Gegenüber. ,,Dir hängt da Sommer mit Todesangst im Mundwinkel." Schnell wischt sie den rötlichen Saft mit dem Saum ihres geblümten Kleids weg. Himbeerpampe sieht auf Blumenmuster aus wie Blut, aber Blumen bluten nicht. Menschen schon. Menschen lachen sie aus. Oft. Aber vielleicht spielt es keine Rolle, wer über wen lacht, solange sie auf spöttisches Grinsen hinter vorgehaltener Hand mit selbstgefälligem schwarzen Humor reagieren kann.Wenn schwarze Schicht abblättert, klafft darunter meist nacktes, rotes Fleisch. Aber ihr Zynismus bleibt standfest. Irgendwo in ihrem Zimmer verfault etwas, wabernd und glucksend kriecht eine Duftwolke durch die stickige Luft.
Ihr Hals fühlt sich kratzig an. Sie ist wütend. So wütend, dass die Worte zu groß für ihre Kehle sind.
Wortstau mit Wunsch nach Explosion. Buchstabenbomben, die auf den richtigen Moment warten, aber er kommt nicht.
Manchmal kommt es vor, dass jemand sich erkundigt, ob alles in Ordnung sei bei ihr.
,,Ist Chaos das Gegenteil von Ordnung?", fragt sie dann.
Ihre Stimme klingt leise, aber nicht unsicher. Bestimmt und fordernd. Antworten will sie haben, auf mehr Fragen als sie stellt. Aber weil ihr niemand antwortet und sie selten weiß, was sie tun soll, wirft sie eine Münze. Das Schicksal bezahlen, so nennt sie das. Auch heute wirft sie eine Münze, unter dem trüben Lichtschein der Deckenlampe. Lange hat sie auf diesen Tag gewartet, auch wenn sie nie sicher wusste, ob es Sehnsucht oder Angst war, die sich so intensiv in ihr ausbreitete, sobald sie an diesen Zeitpunkt dachte. Verkrampft presst sie ihre Augen zusammen, bis die Münze wieder auf dem Boden landet. Eins, zwei, drei, zählt sie. Dann öffnet sie erst das eine,
dann das andere Auge und betrachtet die Oberfläche der Münze. Kopf. Langsam richtet sie sich auf, geht die Schritte bis zum Regal und nimmt die schwarze Schachtel heraus.
Kurz überlegt sie, bevor sie sich an den vergilbten Holztisch setzt und die Schachtel aufmacht.
Darin liegt ein Messer. Sie legt ihren nackten Unterarm auf das Holz, greift nach dem Messer und setzt die Klinge an. Ihr Kopf dröhnt und vor ihren Augen verzerren sic Konturen zu formlosen Farben.
Aber sie drückt zu, weil sie wütend ist und es stimmt, unter schwarzer Farbe klafft nacktes Fleisch. Verletzlich und
irgendwie absurd. Blut quellt über ihren Unterarm, tropft auf ihr Kleid, tropft auf den Teppichboden.
Sie weiß nicht, warum sie das tut. Oder doch:
Die Münze hat es so entschieden. Sie ist wütend, so wütend.
Ihr Körper zittert und sie bemerkt gar nicht, wie Tränen über ihre Wangen rinnen. Es klingelt an der Haustür.
Blut tropft. Es klingelt an der Haustür. Noch einmal. Irritiert hält sie inne.
Dann wirft sie die Münze, nicht hoch, aber hoch genug, um eine Entscheidung zu treffen. Sie steht auf und schwankt zur Tür, ihr wird schwarz vor Augen, doch sie will nicht stehen bleiben.
An der Wand neben ihr hängen alte Fotos und eine stehengebliebene Uhr
. Als sie die Haustür öffnet, ahnt sie bereits, wer sie da mitten in der Nacht besucht. Und sie hat Recht.
Deswegen bittet sie den Gast hinein, lächelt gezwungen, nickt zweimal. Unschlüssig, was jetzt zu tun ist, zögert sie.
Dann seufzt sie und drückt dem Besuch die Münze in die Hand.
,,Viel Glück. Man sieht sich. Machs besser als ich."
Die beiden umarmen sich und But tropft.
Auf Sommerkleider,
obwohl es doch schon Herbst wird.
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Blutflecken auf Sommerkleidern (Ende einer Jugend)
PoetryProtest. Hat sie sich spiegelverkehrt auf ihre Stirn geschrieben, mitten zwischen pubertäre Pickel, fettigen Haaransatz und dichte, beinah schon buschige Augenbrauen. Die schwarze Eddingfarbe ist ein wenig verlaufen, aber das macht nichts. Denn w...