Kapitel 47

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"Pauline?" Vor Schreck hätte ich beinahe das Geländer losgelassen. Mein Herz schlug schneller, als ich erkannte, wem die unbekannte Stimme gehörte. Schritte näherten sich der Brücke. "Was machst du da? Isabelle, komm da herunter!"
Pauline ließ langsam das Messer sinken und Erleichterung durchströmte meinen Körper. Zitternd schwang ich mein Bein wieder zurück und landete mit weichen Knien auf den Holzbohlen. Vor meinen Augen drehte sich alles und ich musste mich an dem Geländer festklammern, um nicht kraftlos zusammenzusinken.
"Was soll das denn werden?" David eilte zu uns heran. Er war ganz bleich im Gesicht und drängte Tristan zur Seite. "Leg das Messer weg!"
Mit einem ausdruckslosen Blick starrte Pauline ihren Bruder an. "Was machst du hier? Du solltest das nicht sehen."
"Ich habe dich gesucht, weil das Lagerfeuer gleich anfängt. Und jetzt leg endlich das Messer weg, verdammt nochmal!", forderte David und griff mir unter die Arme. Er schaute seine Schwester ungläubig an, als diese den Kopf schüttelte.
"Ich habe das doch nur für dich gemacht", sagte sie kaum hörbar und starrte in die Ferne.
"Was hast du für mich gemacht?", fragte er und half mir, ein paar Schritte von Pauline wegzugehen. Tristan folgte uns, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Auch er wirkte wie das letzte Häufchen Elend.
"Alles. Das", mit einer ausschweifenden Handbewegung deutete Pauline auf die Plätze, wo wir eben noch gestanden hatten.
"Isabelle war kurz davor, sich die Brücke hinunterzustürzen!", unterbrach David sie und schaute sie ungläubig an.
"Sie hätte es tun sollen."
Mir wurde erneut schwindelig, als ich daran dachte, dass ich mir gerade fast selbst das Leben genommen hätte, als ich mich daran erinnerte, dass ich tatsächlich bereit dafür gewesen war.
"Ich habe das doch nur für dich getan!", wiederholte Pauline und sah ihn nun verzweifelt an. "Was, zum Teufel?" David ließ mich los und machte zwei Schritte in die Richtung seiner Schwester.
Beinahe meinte ich Tränen in ihren Augen zu erkennen. "Ich habe Yasmin und Yvonnes Mann umgebracht."
"Was?" David erstarrte mitten in seiner Bewegung. Er erblasste noch mehr und lehnte sich an das Geländer, als brauche er etwas, woran er sich festhalten konnte.
Nun sah Pauline beinahe schuldbewusst aus. Sie senkte den Blick, das Messer noch immer in der Hand. "Ich wollte doch nur dein Bestes. Ich wollte doch nur, dass du glücklich bist."
"Indem du jemanden umbringst?", rief David fassungslos aus und vergrub das Gesicht in den Händen.
"Ansonsten hättest du doch nie eine Chance bei Yvonne gehabt. Deshalb habe ich dir den Weg freigemacht", antwortete Pauline und lächelte stolz, was in mir das Bedürfnis auslöste, mich zu übergeben.
Es dauerte lange, bis David wieder etwas sagte. Er schien die Worte seiner Schwester nicht begreifen zu können und schüttelte immer wieder den Kopf, als wolle er sich die Wahrheit selbst ausreden. "Ich glaube das einfach nicht."
"Doch, ich habe es nur für dich gemacht. Weil du sonst nie glücklich gewesen wärst", erwiderte sie.
"Und deshalb hast du zwei Menschen umgebracht?" Mit jeder Silbe wurde seine Stimme lauter.
"Es war die einzige Möglichkeit", sagte Pauline und zuckte mit den Schultern. "Freust du dich denn gar nicht, dass ich so viel für dich getan habe?"
Nun sah David aus, als würde er sich gleich von der Brücke stürzen. "Du spinnst, du bist krank!"
"Um ein Haar hätte ich die beiden auch noch deinem Glück geopfert." Mahnend erhob Pauline den Zeigefinger.
Mir klappte der Unterkiefer hinunter. Sie war wirklich krank. Welcher Mensch würde jemanden zum Wohle eines anderen opfern und anschließend damit prahlen? Aufgrund ihres gestörten Denkens hatten Yasmin und mein Vater ihr Leben lassen müssen.
"Das ist doch krank", hörte ich David wieder und wieder murmeln, als wolle er diesen Satz für sein restliches Leben verinnerlichen. Tristan legte einen Arm um mich und drückte mich vorsichtig. Erschöpft ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken.
Pauline blickte ihren Bruder erwartungsvoll an. "Sag mal, freust du dich denn gar nicht, dass ich mich so für dich bemüht habe?"
"Mich freuen?", spuckte David ihr die Worte entgegen und massierte seine Schläfen. "Soll ich mich wirklich darüber freuen, dass meine Schwester die Mörderin zweier Menschen ist und beinahe noch zwei weitere auf dem Kerbholz gehabt hätte? Ich begreife nicht, wie du so etwas tun kannst!"
"Aber ich wollte doch nur, dass du glücklich bist", betonte Pauline.
"Ich werde niemals glücklich sein können, wenn ich weiß, dass ich eine Mörderin in der Familie habe, mit der ich einen Großteil meines Lebens verbracht habe!", schrie David sie an und sie fuhr zusammen, als habe man sie geschlagen. "Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich gerade dafür verachte und dich hasse!"
Pauline wich zurück und hob schützend das Messer vor ihre Brust. Der Mond spiegelte sich in ihrer Brille und ihre dünnen, braunen Haare fielen ihr in das Gesicht, das auf einmal verletzlich wirkte.
"All die Jahre habe ich so viele Dinge getan, um dich glücklich zu machen. Dich fröhlich zu sehen, ist schon lange mein größtes Ziel gewesen. Und jetzt lehnst du einfach alles ab und tust so, als hätte ich das umsonst gemacht", sagte sie.
Stumm verfolgten Tristan und ich das Gespräch. Uns beiden fehlte die Kraft, uns zu regen oder etwas zu sagen. Mit offenen Mündern beobachteten wir das Szenario, das sich vor uns abspielte.
"Du kannst Liebe nicht erzwingen. Und einen so hohen Preis ist sie nicht wert", stellte David klar und verbarg seinen Kopf erneut zwischen den Händen.
Pauline schwieg. Die Worte ihres Bruders, für den sie die grausamen Taten begonnen hatte, schienen sie tief zu treffen und sehr zu verletzen. Für sie musste gerade eine Welt zusammenbrechen.
"Ich werde dir das niemals verzeihen können. Genauso wie Isabelles Familie es niemals tun wird." Nun drehte sich David zu mir um und warf mir einen Blick voller Trauer und Schmerzen zu.
Trotz einiger Meter Entfernung konnten wir sehen, dass Pauline schluckte. Sie schien mit sich zu kämpfen. "Das alles hat auf einmal gar keinen Sinn mehr."
"Was?", fragte David.
"Alles. Alles, wofür ich gelebt habe. Für dich, weil du mir so viel bedeutest", erwiderte sie und hielt den Blick gesenkt.
Wenn sie keine Mörderin gewesen wäre und uns nicht auch zum Selbstmord hätte zwingen wollen, hätte ich jetzt unter Umständen Mitleid mit ihr gehabt. Sie hatte wirklich dafür gelebt, ihren Bruder glücklich zu machen. Dass er sie so abwies, musste hart sein. Aber es war mir egal, wie sie sich fühlte.
"Ich habe dich nie darum gebeten. Erst recht nicht darum, jemanden zu töten!", empörte sich David und stemmte die Arme in die Hüften. "Und jetzt leg endlich das Messer weg!"
Nun schien Pauline aus ihrem Selbstmitleid zu erwachen. Sie schaute ihren Bruder an, machte aber keine Anstalten, seiner Forderung nachzukommen. Eher schien sie diese Bitte anzustacheln.
"Jetzt ist es sowieso egal", fauchte sie und erhob drohend das Messer, als David sich ihr ein paar Schritte näherte. "Bleib bloß von mir fern, ansonsten mache ich davon Gebrauch. Und ich würde nicht zögern, es gegen meinen eigenen Bruder zu wenden, nachdem er mich wie Dreck behandelt!"
David blieb zwar stehen, reagierte jedoch nicht auf ihre Anschuldigungen. Ich hätte wetten können, dass er innerlich vor Wut kochte.
"Dir ist es doch egal, wie sehr ich mich immer um dich bemüht habe. Du trittst meine ganzen Taten einfach mit Füßen. Obwohl sie mich jahrelang von innen aufgefressen haben und ich so viel für dich geopfert habe. Fast mein ganzes Leben habe ich für dich aufgegeben!", schrie sie ihn an und warf ihm das Messer vor die Füße, das ihn nur um wenige Zentimeter verfehlte. "Und wehe du versuchst, mich daran zu hindern!"
Sie schwang entschlossen ein Bein über das Geländer und flüsterte David etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. Dieser stand wie angewurzelt da, die Augen vor Schreck weit aufgerissen.
"Weißt du was? Ich will das alles nicht mehr!" Mit diesen Worten drehte sie sich um und ließ sich in die Dunkelheit der Nacht fallen.
David stürzte an das Geländer und schrie den Namen seiner Schwester. Aber sie gab keine Antwort.
Es war vorbei.

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