Kapitel 48

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"Möchtest du noch ein Stück Kuchen, Yvonne?"
"Nein, danke, ich bin satt", sagte Mama und lächelte Oma an. Ich hatte sie und meine Großeltern schon lange nicht mehr so glücklich erlebt. Ihre Augen schienen freudig zu glitzern und das Lächeln wollte gar nicht mehr aus ihren Gesichtern verschwinden.
"Es ist schön, dass du hier bist. Du weißt gar nicht, wie sehr wir dich vermisst haben", meinte Opa und legte meiner Mutter die Hand auf den Arm.
"Es tut gut, endlich wieder hier zu sein." Mama schaute sich im Wohnzimmer um und beugte sich zu Apollo hinunter, der schnurrend um ihre Beine strich. Auch ihm gefiel es, dass sie seit über vierzehn Jahren das Haus nun endlich wieder betreten hatte. Vor allem, weil sie ihm ständig kleine Stückchen von Omas berühmten Apfel-Zimt-Kuchen zugesteckt hatte.
Tristan und ich tauschten einen Blick aus und tief in mir spürte ich die Trauer darüber, dass die Zeit bei meinen Großeltern so schnell vergangen war. Die gemeinsamen Erlebnisse hatten uns eng zusammengeschweißt und inzwischen hatte ich das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen.
"Habt ihr schon etwas von Pauline und David gehört?" Meine Mutter richtete sich wieder auf.
"Pauline ist noch nicht aus dem Koma aufgewacht", antwortete ich. Als ich die Nachricht bekommen hatte, dass sie den Sturz knapp überlebt hatte, war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich mich freuen oder traurig sein sollte. Je mehr ich über die Geschehnisse der vergangenen Samstagnacht nachdachte, desto unsicherer war ich mir.
Auch wenn ich es nicht offen zugab, aber die Bilder verfolgten mich noch immer, nicht nur in meinen Träumen. Jedes Mal, wenn ich wieder den Abgrund vor mir sah, ergriffen mich Panikwellen und ich konnte die Todesangst noch einmal spüren. Und jedes Mal erinnerte ich mich daran, dass ich dem Tod nur um Haaresbreite entkommen war. Wäre David nur eine Sekunde später erschienen, läge ich jetzt entweder bei Pauline im Krankenhaus oder unter der Erde. Die Nacht war definitiv die schlimmste meines Lebens gewesen.
An alles, was passiert war, nachdem sich Pauline von der Brücke gestürzt hatte, konnte ich mich nur noch schemenhaft erinnern. David hatte mehrmals ihren Namen gerufen. Und als er keine Antwort erhalten hatte, hatte er sich mit den Ellenbogen auf das Geländer gestützt und angefangen, zu weinen.
Tristan hatte mir geholfen, den dunklen Weg durch den Wald zu finden. Ich war erschöpft gewesen und hatte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen können. Der Schreck hatte mir tief in den Gliedern gesessen und als die Fragen der Dorfbewohner auf mich eingeprasselt waren, hatte ich einfach die Augen geschlossen und alles an mir abprallen lassen. Irgendjemand musste dann den Notarzt gerufen und die Polizei informiert haben.
Aber von deren Eintreffen hatte ich kaum etwas mitbekommen. Das Einzige, was ich noch in Erinnerung hatte, waren die Blaulichter. Über das, was zwischen dem Eintreffen der Rettungskräfte und meinem Erwachen am nächsten Tag geschehen war, hatten Tristan und ich nicht miteinander gesprochen. Wir versuchten beide, diese Nacht zu verarbeiten.
Ein paar Mal hatte uns die Polizei einen Besuch abgestattet und wir mussten die Ereignisse der vergangenen Woche und des Abends schildern. Im Nachhinein kam ich mir unglaublich dumm vor, weil wir Pauline nie als Mörderin in Betracht gezogen hatten. Sie war die ganze Zeit in Davids Nähe gewesen und das Motiv glich dem, das wir bei ihrem Bruder vermutet hatten.
Auch wenn die Wahrheit meinen Großeltern ebenfalls einen großen Schock eingejagt hatte, war ich dennoch froh, dass man die Täterin nun gefunden hatte. Ob und wann man Pauline verhören konnte und ob und wie sie bestraft werden würde, war noch nicht ersichtlich.
Sie lag seit ihrer Bergung im Koma und niemand wusste, wann sie wieder daraus erwachen würde. Die Verletzungen, die sie sich zugezogen hatte, waren schwer und es würde lange dauern, bis sie sich davon erholen würde. Beziehungsweise, ob sie je wieder vollständig genesen sein würde.
Aber um Pauline wollte ich mir nicht viele Gedanken machen, sie hatte es nicht verdient. Umso mehr konnte David nun jede Unterstützung gebrauchen.
Er war zwei Tage nach der verhängnisvollen Nacht hier erschienen und hatte sich im Namen seiner Schwester bei uns entschuldigt. Man hatte ihm angesehen, wie schlimm ihn alles getroffen hatte und er hatte wie ein Häufchen Elend gewirkt. Für ihn war es mindestens genauso hart wie für Tristan und mich, mit Paulines Geständnis klarzukommen. Immerhin musste er mit dem Gedanken leben, eine Mörderin in der Familie zu haben. Von den Schuldgefühlen ganz zu schweigen, da sie die Taten für ihn begangen hatte.
"Ich kann Ihnen gar nicht oft genug sagen, wie leid mir alles tut. Ich kann es selbst noch gar nicht glauben", hatte er gesagt und uns aus seinen blutunterlaufenen Augen angeschaut.
Ich hatte nichts gesagt, weil mir nichts Passendes und Tröstendes eingefallen war. Stattdessen hatte ich ihm ein zurückhaltendes Lächeln geschenkt und ihn in die Arme geschlossen. Eine Geste und ein Lächeln sagten eben doch mehr als tausend Worte.
Eine gute Sache hatte alles aber doch gehabt: Schweren Herzens hatte ich Mama angerufen und ihr alles erzählt. Nichts hatte ich ausgelassen, nicht einmal den Inhalt des Liebesbriefes. Gemeinsam hatten wir geweint und ich hatte mir nichts sehnlicher gewünscht, als sie bei mir zu haben und sie zu drücken. Und dann hatte sie mir versprochen, Oma und Opa zu besuchen.
"Jetzt weiß ich ja, wer das Pech über das Dorf gebracht hat. Das ist nun endlich vorbei und ich kann das Dorf mit gutem Gewissen wieder betreten", hatte sie tapfer erklärt und ich hatte gehört, wie viel Mühe es sie kostete, diese Sätze über die Lippen zu bringen.
Dass sie nun tatsächlich neben mir am Tisch saß und gemeinsam mit uns den Kuchen aß, den Oma zur Feier des Tages gebacken hatte, empfand ich als Wunder und Geschenk zugleich. Und ich fühlte, dass sie unserer kleinen Familie in den letzten Jahren gefehlt hatte. Uns nun wieder vereint zu sehen, war definitiv schöner als Geburtstag, Ostern und Weihnachten zusammen.
"Am meisten Mitleid habe ich mit David. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie sich der Arme jetzt fühlen muss", meinte Mama und seufzte. "Die nächsten Wochen werden bestimmt nicht einfach für ihn."
Betretenes Schweigen breitete sich am Tisch aus. Nur Apollos klägliches Miauen war zu hören, als er um ein weiteres Stück Kuchen bettelte. Er patrouillierte unruhig um Mamas Stuhl herum und rollte sich schließlich auf ihren Füßen zusammen.
"Ich bin einfach froh, dass der Albtraum nun ein Ende hat", meinte Oma schließlich. "Und vor allem, dass euch nichts passiert ist. Das hätte auch anders ausgehen können."
Nacheinander schaute sie Tristan und mich an und wir blickten betreten zu Boden. Wir hatten wirklich Glück gehabt, dass wir mit dem Schrecken davongekommen waren und uns nichts Schlimmeres widerfahren war.
Mama legte einen Arm um mich und ich sah ihr in die Augen. Sie lächelte. "Papa und Yasmin wären jetzt bestimmt stolz auf euch."
Langsam lehnte ich meinen Kopf an ihre Schulter. Ich bewunderte sie dafür, wie sie Paulines Geständnis verarbeitet hatte und nun offen über meinen Vater und meine Schwester reden konnte, obwohl die beiden sonst stets ein absolutes Tabuthema gewesen waren.
"Möchte noch jemand Kuchen?", fragte Oma und deutete mit dem Kuchenmesser auf die verbliebenen zwei Stücke.
Einstimmiges Ablehnen. Jeder hatte längst mehr gegessen, als die Magenkapazität es überhaupt erlaubte.
"Ich glaube, wir sind alle satt, Mama", erwiderte meine Mutter und strich mir über die Haare.
"Wollt ihr den Rest mitnehmen? Als Stärkung für die Fahrt?", bot Oma an und ich lachte.
Aber dann wurde ich melancholisch. Am liebsten hätte ich noch eine weitere Woche hier verbracht. In den letzten Tagen waren Tristan und ich zum See gefahren, hatten auf den umliegenden Wiesen gepicknickt und die restliche Zeit genossen. Gerade hatte alles begonnen, sich unbeschwert und leicht anzufühlen. Deshalb war ich umso trauriger, dass die Zeit hier nun vorbei war.
Während Oma uns die Reste des Kuchens in Alufolie einwickelte, standen wir auf. Opa bestand darauf, Mama noch etwas zu zeigen. So blieben Tristan und ich alleine im Wohnzimmer zurück.
"Schade, dass es jetzt wieder nach Hause geht. Ich wäre gerne noch länger geblieben", meinte ich und merkte, dass ich verlegen wurde. Wenn ich etwas hasste, dann waren es Abschiede.
"Finde ich auch", antwortete er und lächelte mich an. Seine klaren, blauen Augen musterten mich und ich wartete darauf, dass er noch etwas hinzufügte. Aber offensichtlich hatte er alles gesagt.
Also ergriff ich wieder das Wort, bevor die Situation peinlich wurde. "Vor allem die letzten Tage habe ich genossen. Die müssen wir unbedingt wiederholen. Und zwar ohne irgendeinen Gedanken an Pauline."
"Im nächsten Sommer?"
"Gerne auch früher."
Nun erfasste das Lächeln auch Tristans Augen und das kleine Grübchen an seiner Wange bildete sich.
Schweren Herzens breitete ich die Arme aus und drückte ihn. Selten war mir ein Abschied so nahe gegangen. Vor allem, weil es so viel gab, was uns verband und ich mich selten in der Nähe einer Person wohler gefühlt hatte als bei ihm.
Ich atmete seinen inzwischen vertrauten Duft ein und schloss die Augen, um die letzten Sekunden mit ihm zu genießen. Seine Wärme hüllte mich ein und ich seufzte leise.
Meine Mutter rief mich und langsam löste ich mich von ihm, meine Arme noch immer um seine Hüfte gelegt.
"Ich hasse Abschiede", bekannte ich.
"Geht mir auch so. Vor allem, weil man nie weiß, was man sagen soll", antwortete Tristan und ich schmunzelte.
Erneut hörte ich meine Mutter rufen, doch ich wandte meinen Blick nicht von Tristans Gesicht ab. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange.
Aber Tristan hielt mich fest und im nächsten Moment spürte ich seine weichen Lippen auf meinen. Mein Herz flatterte wild in meiner Brust, als ich seinen Kuss erwiderte und die Augen schloss.
"Bis bald", sagte Tristan schließlich und ließ mich langsam los.
Ich lächelte. "Bis zum nächsten Mal."

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