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„Jetzt reicht's!" Wutentbrannt schlug ich mit voller Wucht die Haustür hinter mir zu. Draußen wehte ein eiskalter Wind und der Schnee blies mir ins Gesicht, aber es war mir egal. „Aber Emilia", rief meine Mutter hinter mir her. Ich drehte mich nicht um. Mir war alles egal. „Emilia!", schrie sie noch einmal. In Zeitlupe drehte ich mich um und verfinsterte meinen Blick immer mehr, je näher mein Gesicht dem meiner Mutter kam. Ich war schon einige Meter von ihr entfernt und trotzdem schien es mir, als sagten unsere Gesichtsausdrücke alles über die letzten Minuten aus, in denen ich Hals über Kopf beschlossen hatte von hier wegzugehen, wenn auch nur für ein paar Stunden. Überleben konnte ich in der Wildnis sowieso nicht. „Wenn du mich loshaben willst, bitte, aber erwarte dann nicht von mir, dass ich dich weiterhin so behandle, als sei nichts geschehen. Das war jetzt jahrelang schon so. Es reicht mir einfach!", fauchte ich sie an und ging, ohne ihre Antwort abzuwarten, weiter. In mir stieg jedoch ein Gefühl der unbeschreiblichen Enttäuschung auf. Wie konnte eine Mutter ihre Tochter nur so vernachlässigen... Immer nur Benedikt! Immer nur mein Bruder! Benedikt hier, Benedikt da. Immer nur er! Waren wir hier in irgendeinem Land, in dem Jungen akzeptiert und Mädchen verachtet werden? Oder lebten wir überhaupt im 21. Jahrhundert? Ich hatte einfach keine Rechte und kam mir vor wie die Zeitzeugin aus der Quelle im Geschichtsunterricht, die sich über ihre Situation beklagte und für ihr Wahlrecht und sonstige Rechte kämpfen wollte. Aber keiner schenkte ihr Aufmerksamkeit. Ich sah mich als lebendiges Gegenstück zu ihr. Danach brachen meine Gedanken zusammen und machten Platz für die Mengen an Schneeregen, die mein Gehirn zu überfluten drohten. Mir wurde immer kälter, äußerlich wie innerlich, aber ich konnte einfach nicht zurück. Es war mir, als kehrte ich sonst freiwillig zurück ins Verderben. Nein! Lieber erfror ich jämmerlich in der Eiseskälte als umzudrehen. Ich wollte alles hinter mir lassen, für immer. Mein erstarrter Körper ließ sich von meiner verletzten Psyche immer weiter hinaus aufs Land tragen. Ich hatte selbst keinen Einfluss mehr auf das, was ich tat. Irgendjemand übernahm für mich das Denken und die Ausführung seiner ausgedachten Ideen. Ich wurde kontrolliert und fremdbestimmt. Etwas, das ich nicht ertragen konnte, besonders wenn ich nicht wusste, ob derjenige gute oder böse Absichten hatte. Das Atmen fiel mir immer schwerer und ich musste mich hinsetzen, doch es gab nichts als weite unberührte Schneeflächen. Also ließ ich mich einfach fallen und schloss die Augen. Damit versuchte ich wahrscheinlich, meine Tränen zurückzuhalten, wenn ich denn dazu fähig war, die Gedanken meines Kontrolleurs richtig zu verstehen. Ich zitterte am ganzen Körper, aber auch das war mir so unwichtig wie die Menschen, die ich in meinem Haus zurückgelassen hatte. Als ich mich nach wenigen Minuten wieder erhob, merkte ich, dass ich langsam wieder die Gewalt über meine Handlungen und Gedanken zurückbekam. Der Störenfried hatte wohl die Kälte des Schnees nicht überlebt. Aber im Gegensatz zu meiner Situation zuhause war der Schnee wie ein mollig warmes Kissen gefüllt mit Federn und wärmespendendem Material. Ich spürte die in der Realität vorliegende Kälte überhaupt nicht, aber trotzdem strömten Tränen aus meinen Augen und brannten auf meinem durchgefrorenen Gesicht. Ich biss mir verzweifelt auf die Lippen und bildete mir ein, dadurch die familiären Verhältnisse verbessern und alles zum Guten wenden zu können. Das war natürlich völliger Unsinn, aber ich wusste mir im Moment nicht anders zu helfen. Bestimmt saßen meine Eltern nun mit Benedikt gemütlich im Wohnzimmer mit einer Tasse Tee vor dem Kachelofen. So hatte ich sie in den letzten Wochen schon oft vorgefunden, wenn ich nachmittags aus der Schule kam. Als hätten sie nichts zu tun. Als ginge es immer nur um sie, um die glückliche dreiköpfige Familie, denen ein Teenager wie ich so gelegen kam, dass er jedes Mal hoch in sein Zimmer geschickt wurde anstatt gefragt zu werden, ob er sich nicht dazusetzen wollte. Traurig und enttäuscht hatte ich mich daraufhin in mein Zimmer verkrochen. Was hatte ich denn bloß getan, dass sie so abweisend auf mich reagierten? Dieselbe Frage stellte ich mir genau in diesem Moment. Ich schluckte heftig und spürte dabei einen dicken Kloß in meinem Hals. Ich war unnötig, überflüssig. Meine Lippen hatte ich inzwischen wundgebissen und meine Zähne drohten unter dem Geklapper zu zerbrechen. Ich merkte, wie mich meine Beine ungewollt zurück in die Richtung meines Heimatdorfes trugen. Gedankenverloren starrte ich in den weiß-grauen Himmel, den ich als Ebenbild meiner trüben Welt sah. Diese Bevorzugung meines kleinen Bruders, diese Missachtung aller gegenüber mir, die heimlichen Vergnügungen ohne mich, die heftigen Streitereien, vor allem mit meiner Mutter, das Anschreien und gleichzeitige Verschweigen von wichtigen Ereignissen in der Verwandtschaft, die ich zufällig mitbekommen hatte. Ich war wohl nicht wichtig genug, um davon zu erfahren, dass sich meine älteste Cousine verlobt und gleichzeitig mein Onkel von meiner Tante getrennt hatte. Womit hatte ich das verdient. Ich hatte ihnen wirklich nichts getan. Ich versuchte immer, meinen nervigen Bruder zu respektieren und einigermaßen gut mit ihm auszukommen, auch wenn es mir ehrlich gesagt immer schwergefallen war. Ihm war nämlich alles egal, was mich betraf und er zeigte auch nie die geringste Zuneigung zu mir. Aber gerade deshalb fragte ich mich, wieso ich dann der Sündenbock war und nicht er. Meinen Eltern gegenüber hatte ich mich immer offen verhalten und ihnen nichts verheimlicht, egal ob im schulischen oder sozialen Bereich. Ich hatte ihnen sogar vom Streit mit meiner ehemaligen Freundin erzählt und alle Sorgen, die mir sonst noch auf dem Herzen lagen. Damals dachte ich immer, sie hätten ein offenes Ohr für mich. Aber seit sich die Situation derartig zugespitzt hatte, war ich echt am Überlegen, ob das alles nicht nur Einbildung meinerseits und gelungene Schauspielerei ihrerseits war.
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Mein Weg zur Wahrheit
Teen FictionDie sechzehnjährige Emilia hat ein ziemlich konfliktreiches Verhältnis mit ihrer Familie, was sie zunehmend an ihre psychische Belastungsgrenze bringt. Den einzigen Trost bekommt sie durch ihre beste Freundin Laura. Eines Tages macht sie einen ersta...