Es war nun 19:18 Uhr, und mir fehlte jegliche Motivation zum Lernen.
Ihr könnt euch vermutlich denken, wieso.
Eigentlich hatte ich geplant, diesen James auf das anzusprechen, was mir durch den Kopf gekreist war, als ich seinen Namen gehört hatte, doch nach Felix' Kommentar hatte er seinen Karton aufgehoben, mich engelsgleich angelächelt und war auch schon in seinem neuen Zimmer verschwunden.
Nun saß ich an meinem Schreibtisch und wartete auf das Ende dieses unglaublich nervtötenden Lärms vor meiner Tür.
Ob dieser Kerl tatsächlich James war? Ich meine, es gab Tausende, wenn nicht Millionen von Menschen da draußen, die den Namen James trugen, wieso sollte er also derjenige sein?
Vermutlich hatte ich diesen Schluss dank seines Äußeren gezogen. Braune Haare, harte Gesichtszüge, diese unvergleichlichen Augen...
Sie hatten mich direkt an den James von damals erinnert.
Jetzt stellte sich allerdings noch eine Frage: Wollte ich denn, dass es dieser James war?
Irgendwie schon. Es wäre wirklich toll, wenn wenigstens eine schöne Erinnerung aus meiner Vergangenheit erneut in mein Leben treten würde. Aber...ob James das auch so sah?
Was, wenn er mich längst vergessen hatte? Den kleinen, erbärmlich weinenden Jungen, der genau so ausgesehen hatte wie etliche andere Kinder in diesem Alter? Ich war nie etwas Besonderes gewesen. Weshalb also sollte er sich noch an mich erinnern?
Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als jemand meine Tür mit Schwung öffnete. Fanny.
"Davin, Schatz? Essen ist fertig!"
Ich seufzte, vielleicht ein wenig zu theatralisch.
"Also, um ehrlich zu sein...ich habe wirklich keinen Hunger, Fanny."
Doch sie trat einfach in mein Zimmer und zog mich von meinem Stuhl.
"Keine Widerrede! Wir essen schließlich mit James, um ihn willkommen zu heißen! Und ich denke nicht..."
Sie wackelte provozierend mit ihren Augenbrauen. "...dass du dir einen so leckeren Anblick entgehen lassen willst!"
Fanny war nicht die Einzige, die meine Sexualität gerne als Argument für ihre Zwecke benutzte. Alle aus der WG wussten, dass ich schwul war, und auch wenn es niemanden störte oder anwiderte, sie verwendeten es ständig gegen mich. Jedes. Verdammte. Mal.
Doch es hatte gewirkt. Meine Wangen wurden schlagartig rot und Fanny nutzte dies natürlich sofort aus, um mich auslachen zu können.
"Ach, Davin, du bist sowas von niedlich! Keine Angst, James ist wirklich nett. Er wird dich schon nicht beißen..."
Daraufhin traten wir aus meinen Zimmer in den engen Flur hinaus.
"...Naja, jedenfalls nicht, wenn du noch nicht bereit dazu bist."
Fanny hatte ein Talent dafür, mich jedes Mal aufs Neue zum Erröten zu bringen.
"Verdammt, Fanny! Du weißt, dass ich nicht so bin!"
Mittlerweile waren wir in der leeren Küche angekommen.
"Was nicht ist, kann schließlich noch werden."
Damit war das Thema zum Glück fürs Erste gegessen. Ich nahm an dem bereits gedeckten Esstisch Platz, mit dem Rücken zur stahlblau gestrichenen Wand gedreht, damit ich mich gemütlich anlehnen konnte. Mein absoluter Lieblingsplatz seit meinem Einzug.
Es traten drei Gestalten in die Küche. Ben, ein weiterer Mitbewohner, dann Felix und zum Schluß James.
Das Beste kommt gewöhnlich immer zum Schluss...
Warte, was?
Die drei nahmen ebenfalls Platz, James setzte sich mir direkt gegenüber. Ob das Absicht war? Tatsache ist, es machte mich nervös.
Auch wenn es mir wahnsinnig unangenehm war, hielt es mich trotzdem nicht davon ab, ihn kurz zu mustern.
Er trug ein gewöhnliches, schwarzes Shirt und eine Jogginghose...und erst jetzt fiel mir auf, dass seine Haarspitzen nass waren. Er hatte sicher geduscht.
Irgendwann bemerkte er natürlich meine Blicke und erwiderte sie prompt. Jedoch glitten seine Augen viel intensiver über meinen Körper, als ich es mir je gewagt hätte. Er schien ziemlich selbstbewusst zu sein, was ihn aber glücklicherweise nicht eingebildet wirken ließ. Ich fand das...ziemlich interessant.
"Gut! Da Lina heute arbeiten muss, sind wir erstmal komplett. James kennt ihr ja bereits. Also lasst uns essen, Freunde!"
Felix und Fanny stürzten sich gierig auf das Essen, was mich schmunzeln ließ. In vielerlei Hinsicht konnte man ahnen, dass die beiden Geschwister waren. Ich hatte es anfangs auch sofort bemerkt, ohne es von ihnen bestätigt bekommen zu haben.
Wie gesagt hatte ich tatsächlich keinen Hunger, also nahm ich mir nur eine kleine Portion Salat und lud ihn mir auf den Teller. Kurz darauf war ich in Gedanken bereits bei den molekularen Grundlagen der Vererbung.
Für das Studium wollte ich mich so richtig ins Zeug legen. Wenn ich es schaffen würde, Arzt zu werden, dann könnte ich später vielen Menschen helfen, was mich wirklich glücklich machen würde. Meiner Mutter konnte ich schließlich nicht helfen.
Ich kam erst aus meinen komplexen Gedankengängen heraus, als sich eine große Hand auf meinen Kopf legte. Perplex sah ich nach oben, direkt in James' Augen.
"Na, aufgewacht? Ich dachte schon, du wärst gar nicht mehr ansprechbar."
Erst jetzt bemerkte ich, dass die anderen die Küche verlassen und sogar den Tisch abgeräumt hatten, ohne meine Tagträume unterbrochen zu haben.
James hatte es aber geschafft.
"Ist alles in Ordnung? Du scheinst...ein wenig neben der Spur zu sein."
Schnell stand ich auf und nahm meinen noch immer vollen Teller vom Tisch, ohne das seine Hand ihren Platz wechselte. Als ich vor James stand, lag sie noch immer auf meinem blonden Haar. James dachte gar nicht daran, sie zu entfernen.
"Ich wollte sowieso noch etwas mit dir besprechen. Wärst du so lieb und kommst gleich in mein Zimmer?"
Bei diesem unwiderstehlichen Blick konnte ich nicht verneinen. Im Ernst, das hätte niemand geschafft. Ob er das geübt hatte? Von diesem Blick würde ich mich noch tagelang nicht erholen können.
"Äh...ja...klar."
Endlich nahm er seine Hand weg und machte auf dem Absatz kehrt.
"Danke! Dann bis gleich, Kleiner."
Und schon war er verschwunden. Während ich mein Zeug wegräumte, fiel es mir auf: Er hatte mich Kleiner genannt.
Zehn Minuten später, nachdem ich ohne Grund mein Äußeres auf Vordermann gebracht hatte, verließ ich mein Zimmer und stand gleich darauf vor James' Tür.
Was mache ich hier überhaupt? Ich muss eigentlich lernen...
Für den Moment wollte ich allerdings lieber meine Gedanken verdrängen und dieses Zimmer betreten. Ich wollte es wissen.
Nachdem ich zaghaft klopfte und ein "Herein!" vernommen hatte, öffnete ich die Tür und fand ein noch relativ kahles Zimmer vor.
Es standen etliche Kartons an den Wänden, gestapelt oder geöffnet. Das einzige, was an fertigem Möbelar bereits vorhanden war, war ein Bett und ein hohes Regal, vollgestopft mit Büchern. Er schien also viel für Literatur übrig zu haben...
"Nicht so schüchtern! Immer hereinspaziert."
James saß mit einem dicken Buch im Schoß auf seinem ordentlich bezogenen Bett und grinste mich herrlich an. Wenn er der Teufel gewesen wäre...ich hätte ihm sowas von meine Seele gegeben!
Zurück zum Thema.
Ach ja, Verzeihung.
Etwas verlegen schloss ich die Tür und wollte mich gerade auf den Boden setzen, als sich James empört erhob.
"Was soll das werden?", fragte er entsetzt.
"Ähm...ich wollte mich hinsetzen, denke ich?"
Daraufhin zog er mich am Arm wieder nach oben und schon befand ich mich auf seiner Matratze.
"Nichts da! Ich habe zwar noch keine richtige Sitzgelegenheit, aber mein Bett ist mit Sicherheit bequemer."
Das machte die Angelegenheit zwar noch peinlicher, doch ich wollte ihn nicht verärgern, also blieb ich einfach sitzen.
Er legte sein Buch auf dem Boden ab, bevor er sich neben mich setzte.
"Also...über was möchtest du sprechen?", wollte ich wissen.
Eigentlich weiß ich es schon. Naja, jedenfalls kann ich es mir denken.
"Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist...aber wir kennen uns schon. Es ist lange her."
Nach diesen Worten fiel mir aus irgendeinem unerklärlichen Grund ein Stein vom Herzen. Die Tatsache, dass er mich ebenfalls erkannt hatte, ließ mich überglücklich Lächeln.
Ich sagte, noch immer lächelnd: "Ja, es ist wirklich lang her."
James sah erstaunt zu mir.
"Ist was?", fragte ich.
Danach schüttelte er den Kopf und schenkte mir sein wundervolles Lächeln.
"Es ist nur...ich dachte erst, du hättest verlernt, wie man lächelt. Anscheinend habe ich mich getäuscht. Das ist gut."
Sein Lächeln wuchs und versetzte mir Stiche einer unbekannten Sehnsucht in meine Brust.
"Mann, bin ich erleichtert! Ich habe dein Lächeln echt vermisst, Davin."
Als ich erkannte, wie heftig mein Herz auf seine Worte reagierte, wusste ich, das alles ging in eine riskante Richtung.
In mir keimten Fragen auf, deren Antworten ich gar nicht hören wollte.
War James vielleicht auch schwul? Oder bi? Fand er Homosexuelle vielleicht abstoßend? Würde er mich hassen, wenn er erfahren würde, dass ich so war?
Würde ich das ertragen können?
Würde ich...mich in ihn verlieben, wenn er weiterhin so liebevoll zu mir war?
James fielen anscheinend meine Zweifel auf, denn seine Miene wurde besorgt.
"Davin, was hast du? Habe ich etwas Falsches gesagt?"
Sofort schüttelte ich meinen Kopf, wodurch zum Glück ein Teil meiner Zweifel verschwanden.
"Nein! Es ist nur... Ich freue mich auch, dich wiederzusehen. Es war...sicher nur der Schock, weißt du?"
Für einen kurzen Moment dachte ich, es würden mir Tränen in die Augen steigen, doch das war nicht der Fall. Vorerst.
Was auf meine Antwort folgte, verjagte auch alle weiteren Zweifel.
"Tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe. Ich war auch ein wenig perplex, als ich es gemerkt habe. Davin...darf ich dich umarmen?"
Mein Bauch übertönte meine Gehirnzellen, wodurch auch rationales Denken nicht mehr möglich war. Ich nickte einfach automatisch.
Und um ehrlich zu sein: Noch nie hatte sich eine Umarmung so warm und herzlich angefühlt wie seine. Ich ließ mich regelrecht von James in den Arm nehmen, da ich auf einmal ganz müde und erschöpft war. Das kam sicher durch den Sturm in meinem Inneren, er hatte mich komplett ausgelaugt.
Behutsam strich mir James mit seiner linken Hand über den Rücken und mit der Rechten durch die Haare. Es fühlte sich mehr als gut an.
"Du glaubst nicht, wie froh ich bin, dich wiederzuhaben.", murmelte er ruhig in mein Haar, wodurch meine Haut wie verrückt kribbelte.
Was tue ich hier? Ist das richtig? Kann das gutgehen?
Anstatt mir jedoch weiterhin darüber den Kopf zu zerbrechen, umarmte ich James ein bisschen fester und drückte mein Gesicht gegen seine Brust.
"Ich weiß sehr gut, wie du dich fühlst..."
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Grown up now (boyxboy)
Roman d'amourDavin und James begegneten sich zufällig, ein Aufeinandertreffen zwei fremder Kinder, die noch nichts von der Welt begriffen. Doch beim zweiten Mal kann es unmöglich nur ein Zufall sein... "Danke...", flüsterte er mir liebevoll ins Ohr. Ich verstand...