Ein lautes Knallen reißt mich unsanft aus meinen Träumen. Ich öffne die Augen und sehe mich im Raum um. Das winzige Fenster gegenüber von mir ist zugeschlagen. Ich zwinge mich dazu, aufzustehen und reibe mir den Schlaf aus den Augenwinkeln. Meine Hose und der untere Teil meines Shirts sind durchnässt vom Regen. Zu meinen Füßen hat sich eine große Pfütze gebildet und ich kann spüren, wie das Wasser langsam durch die Sohlen meiner Schuhe sickert. Mein ganzer Körper zittert. Jedoch nicht vor Kälte, sondern vor Wut. Wer auch immer die Aufgabe zugewiesen bekommen hat, mich nach drei Tagen endlich aus diesem Loch zu befreien, kann sich auf etwas gefasst machen, denn ich bin stink sauer.
Ich stelle mich auf Zehenspitzen und schließe das Fenster. Es ist nicht das erste mal, dass Louis mich zur Strafe hier eingesperrt hat. Eigentlich ist diese kleine, stickige Kammer mir inzwischen schon vertrauter als mein eigenes Zimmer. Für gewöhnlich werde ich jedoch noch am selben Tag wieder herausgelassen.
"Ich müsste mal auf die Toilette!", rufe ich und hämmere dabei mit der Faust gegen die Tür. Keine Antwort. Thomas muss sich entweder aus dem Staub gemacht haben oder eingeschlafen sein. Wirklich großartig.
"Hallo?", versuche ich es erneut. "Ich muss mal!"
Ich habe keine Ahnung wie spät es ist, doch die zarten Sonnenstrahlen, die durch das Fenster in den Raum dringen, und meine volle Blase, verraten mir, dass mein letzter Toilettenbesuch schon mehrere Stunden her sein muss.
"THOMAS!"
Zu meiner großen Erleichterung öffnet sich keine Sekunde später die Tür und meine schlechte Laune verflüchtigt sich, als ich in das Gesicht von Ben blicke, der mich freundlich anlächelt.
"Gott sei dank!"
Augenblicklich versuche ich mich an ihm vorbeizudrängen, doch er versperrt mir den Weg.
"Wow, nicht so schnell.", meint er und hält mich an den Schultern auf Abstand. Seine blauen Augen huschen kurz über meine Gestalt. Ich zähle in Gedanken langsam bis zehn, so wie Louis es mir beigebracht hat, und atme tief durch.
"Wieso bist so denn so nass?", möchte Ben wissen. Er runzelt leicht die Stirn, doch ich zucke nur unbekümmert mit den Schultern.
"Hab' mit offenem Fenster geschlafen.", entgegne ich, als mir klar wird, dass er eine Antwort erwartet. "Ben, bitte. Ich muss mal."
Ben macht zögerlich einen Schritt zu Seite, um mich durchzulassen.
"Okay, aber beeil dich. Louis möchte mit der reden.", warnt er.
Ohne mir großartig den Kopf über seine Worte zu zerbrechen, jogge ich den Gang zum Bad entlang. Als ich mein kleines Geschäft endlich verrichtet habe, sickern diese jedoch plötzlich ein und mir wird schlagartig anderes - Louis möchte mit mir reden. Irgendetwas stimmt nicht.
Vor Louis' Büro hole ich einige Male tief Luft und zähle bis zwanzig, ehe ich schließlich anklopfe und, ohne auf ein Bitten zu warten, den Raum betrete. Sofort sind zwei Augenpaare auf mich gerichtet. Ich versuche mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen und gehe langsam auf Louis, welcher wie gewohnt an seinem Schreibtisch sitzt und ein Dokument in der Hand hält, zu.
"Du wolltest mit mir reden?", sage ich tonlos und verschränke die Arme vor der Brust, um meine Unsicherheit zu überspielen. Louis mustert mich einmal von oben bis unten und ich spüre, wie sich meine Wangen verfärben. Ich muss aussehen wie ein wandelndes Wrack.
"Möchte ich wissen, warum du so durchnässt bist?", fragt er schließlich, sichtlich amüsiert. Ich zucke mit den Achseln.
"Es hat geregnet.", gebe ich zurück. Louis nickt verstehend - er weiß nur zu gut, dass ich mit geschlossenem Fenster nicht einschlafen kann - als plötzlich ein Räuspern neben mir meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich lege die Stirn in Falten und begutachte den Verursacher, welcher keine zwei Meter neben mir auf den Couch sitzt, skeptisch. Er scheint ungefähr in meinem Alter zu sein. Und er sieht gut aus. Braune Haare, grüne Augen. Durchtrainiert, aber nicht zu muskulös. Genau mein Typ. Wenn man mal davon absieht, dass er höchst wahrscheinlich ein Auftragskiller oder etwas der gleichen ist.
"Finya, das ist Carter.", erklärt Louis beiläufig, während er das Dokument in seinen Händen überfliegt. Der junge Mann - Carter - nickt mir kurz zu, wendet sich dann aber wieder an Louis.
"Soll ich sie sofort mitnehmen?", will er wissen. Ich runzle leicht die Stirn, da ich keinen Schimmer habe wovon er spricht.
"Wen oder was mitnehmen?"
Louis sieht auf und seine grauen Augen treffen für einen flüchtigen Moment auf meine. Wieder einmal wird mir heiß und kalt zugleich.
"Verkaufst du mich etwa?", platzt es panisch aus mir heraus. Louis sieht mich an, als hätte ich ihm eine verpasst. Und damit meine ich nicht, dass er schockiert oder gar verletzt wirkt, sondern viel mehr wütend.
"Denkst du das wirklich?", will er von mir wissen und funkelt mich düster an. "Denkst du nach all den Jahren, in denen ich dir ein Dach über dem Kopf gewährt und dafür gesorgt habe, dass du etwas anständiges anzuziehen und zu essen hast, würde ich dich allen ernstes noch verkaufen?"
Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, doch mir kommt kein vollständiger Satz über die Lippen, deshalb schließe ich ihn wieder und sehe stattdessen reumütig zu Boden.
"Schaff' sie hier weg. Ich gebe Thomas Bescheid, dass er ihre Sachen in deinem Auto verstauen soll."
Seine Worte treffen mich wie ein Stich ins Herz und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sieht man mir das auch an. Louis möchte nicht, dass ich gehe. Aus irgendeinem Grund beruhigt mich diese Erkenntnis. Vielleicht weil ich insgeheim hoffe, hierher zurückkehren zu können, sobald alles wieder seinem rechtmäßigen Gang geht.
"Du hast eine halbe Stunde Zeit, dich fertig zu machen.", verkündet er, ohne mich anzusehen. Ich nicke lediglich, da ich befürchte in Tränen auszubrechen, sollte ich erneut versuchen etwas zu erwidern, und verlasse wortlos sein Büro.
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Schwarz-Weiß
RomanceStockholm-Syndrom - Ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen oder Entführungen mit ihren Entführern sympathisieren und ein positives, emotionales Verhältnis zu ihnen aufbauen.