Teil 3

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Schwarze Gewitterwolken zogen in einer mörderischen Geschwindigkeit über meinem Kopf davon. Erst kam der Blitz, ein langer, lila-weißer Blitz, dann der ohrenbetäubende Donner. Schwere Regentropfen folgten, sie bedeckten den Asphalt, die Bäume, meinen zitternden Körper. Mein Atem ging schneller, dringender, ringend nach Sauerstoff. Wo war ich? Was tat ich? Wer war ich überhaupt?
Vor meinen Füßen landete ein Zettel, auf dem eine verschmierte Nachricht stand.
"Du hast versagt."

"Davin? Davin!"
Keuchend erwachte ich aus dem Traum, der mich seit einem Jahr verfolgte. Er wollte mich garantiert um den Verstand bringen.
James stand vor mir und sah beunruhigt zu mir herunter. Mir fiel auf, dass ich nicht in meinem Bett geschlafen hatte, sondern in seinem. Oh man.
"Ist alles okay? Hattest du einen Alptraum, Kleiner?"
Ich ließ die Frage kurz unbeantwortet und rieb den Schlafsand aus meinen Augenwinkeln.
"Ja...ich denke schon. Hab ich irgendwas gesagt im Schlaf?"
Er setzte sich auf die Bettkante.
"Nein...du hast nur deine Augen zusammengekniffen, dass ich dachte, deine Lider würden reißen. Geht es dir gut? Willst du drüber reden?"
Ich schüttelte erschöpft den Kopf. Egal, mit wem ich über diesen ständig wiederkehrenden Traum gesprochen hatte, es hatte nie etwas genützt.
Mein Unterbewusstsein wollte mich immer wieder an den Tod meiner Mutter erinnern.
Ja, ich habe tatsächlich versagt.
Plötzlich wurde ich in eine feste Umarmung gezogen.
"James...?"
Er hatte seine nackten Arme um meinen Kopf geschlungen und drückte mich energisch gegen seinen warmen Oberkörper. Verdammt, ich wurde mal wieder rot.
"Wenn du nicht darüber sprechen möchtest, ist das auch in Ordnung. Ich will dich nicht drängen oder so."
Er hielt kurz inne, um mich loszulassen, jedoch umfasste er sanft meine Schultern und sah mir tief in die Augen. Das Blau darin übertrumpfte heute das Grün, als würde man Wasser über eine Wiese gießen.
"Es ist nur...ich habe einfach das Gefühl, ich müsste mich um dich kümmern. Okay, das ist unglücklich ausgedrückt. Ich möchte mich um dich kümmern, Davin. Egal, was dir auf dem Herzen liegt, ich bin da. Ab jetzt bin ich jederzeit da, okay?"
Seine Worte waren peinlich...doch viel mehr rührend und warm als unangenehm. Ich fühlte mich, als stünde ich den Tränen nahe.
"Danke, James... Das bedeutet mir echt viel. Mir hat niemand so etwas gesagt, seit..."
Die Erinnerungen an meine verstorbene Mutter stießen mich über die Grenze, die meine Tränen bis jetzt zurückgehalten hatten. Im nächsten Moment saß ich heulend da und schniefte meinem Gegenüber Mitleid erregend entgegen. James sah ebenfalls verzweifelt aus.
"Wa- Davin? Hab ich was Falsches gesagt? ...verdammt, arbeite mit mir, Kleiner!"
Da ich aber einfach weiter flennte, anstatt eine Antwort zu geben, umarmte er mich einfach wieder, bis ich mich beruhigt hatte.
"Was ist los? Willst du es mir wirklich nicht sagen?", fragte er, nachdem ich mich aufgerichtete hatte.
"Es tut mir leid." Schnell wischte ich einzelne Tränen von meinen glühenden Wangen.
"Ich werde es dir erzählen. Es ist so...mir hat niemand mehr so etwas gesagt, seit...meine Mutter letztes Jahr verstorben ist. Deshalb bin ich so emotional...aber es waren eher Freudentränen, wirklich!"
James sah bestürzt in meine Augen. Meine Mutter hatte er ja auch seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
"Davin...das tut mir so leid!" Es folgte die dritte Umarmung an diesem Tag, nur diesmal presste er sein Gesicht gegen meine Brust und schlang seine Arme um meine Taille.
"Wenn ich das gewusst hätte..."
"...was wäre dann?"
Er blieb stumm, vermutlich dachte er darüber nach.
"Ich weiß es nicht. Ich hätte dich wahrscheinlich, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht ausfindig machen können. Aber wenn ich es doch geschafft hätte...ich hätte dich gerne schon viel früher getröstet, ehrlich."
Da ich seine Antwort irgendwie nicht so ganz verstand, ging ich erstmal nicht weiter darauf ein, sondern erwiderte seine Umarmung und genoss seinen Trost. Noch wusste ich nicht, dass der Trost uns beiden galt.

Nach einer halben Ewigkeit, in der meine Tränen glücklicherweise längst versiegt waren, bemerkte ich erst, wie wir uns verhielten. Wir kuschelten seit Stunden, obwohl erst gestern unser erneutes Wiedersehen stattgefunden hatte, und obwohl es mir in keinster Weise missfiel, ging das alles für meine Verhältnisse verdächtig schnell.
James spürte meine Unsicherheit und ließ kurz darauf von mir ab. Er musterte mich von oben bis unten.
"Sag mal...ist dir dieser ganze Körperkontakt unangenehm?", fragte er geradeheraus.
Mir stieg gleich die Röte ins Gesicht, wofür ich mich gern geschlagen hätte. Es war mir schon unangenehm...aber nicht auf diese Weise, auf die er vermutlich abspielte. Ich war schließlich schwul.
"Nein! Also...eigentlich nicht...ich meine...wieso fragst du?"
Daraufhin fing er schallend an zu lachen.
"Ach, nur so. Manche finden es wohl abstoßend, mit dem selben Geschlecht zu schmusen, wenn du verstehst."
Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, dachte ich. Sag es ihm, jetzt sofort.
"Also, wo du es gerade so ansprichst...wegen dem selben Geschlecht...naja, wie soll ich sagen?"
Am Besten so, wie es ist?
Ach, halt doch die Klappe!
"...ja?"
Inzwischen lagen James' Hände auf meinen überkreuzten Beinen.
"Ich...also, ich bin jemand, den sowas nicht stört. Also, ich meine, ich bin auch tolerant allgemein, aber darauf wollte ich nicht hinaus, es ist spezifischer als Toleranz. Was ich damit sagen will, ich bin jemand, den es nicht stört, mit dem selben Geschlecht zu kuscheln, weil...naja..."
"Davin, du bist schwul?"
Ach, scheiße! Wenn er mich jetzt hassen würde?
"Krasser Zufall! Da haben wir ja was gemeinsam!"
Der zweite Stein, der wesentlich schwerer war als der, den ich gestern schon losgeworden war, plumpste förmlich aus meiner Brust heraus. Es traf mich wie ein Schlag. James war auch ein Homo. Wir waren beide Homos!
Zwei Homos in einem Bett?!
"Moment mal. Echt jetzt? Du bist auch schwul?"
"Ja! Ist das nicht lustig? Wenn ich das früher gewusst hätte, dann-"
"Das will ich gar nicht wissen, James!"
Er lachte sich die Seele aus dem Leib, bis ich mich geschlagen gab und mit einstieg. Nun lagen wir beide mit Tränen in den Augen und weit aufgerissenen Mündern auf seinem Bett und gaben ungesund klingende Laute von uns. Im Ernst, es klang eher wie ein Krähen als ein Lachen.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir langsam in eine seltsame Position gewechselt waren. Ich lag auf meinem Rücken, quer über das gesamte Bett ausgestreckt, und da James keinen Platz mehr hatte, legte er einfach seinen halben Oberkörper auf meinen und schlang seine Beine um meine.
Ich hätte ewig so liegen bleiben können, und das schien James genauso zu ergehen.
Doch gerade, als er zum Sprechen ansetzte, fiel es mir wie Tomaten von den Augen: Meine Vorlesung!!!
"Oh, verdammt!", bellte ich los wie ein Hund, dem gerade auf den Schwanz getreten wurde, und schaffte es irgendwie, mich aus James' festem Griff zu winden.
"Was ist los?", rief mir der Braunhaarige hinterher, doch ich stand schon im meinem Zimmer, vor meinem Kleiderschrank.
"Sorry...ich hab Uni! Äh, ich mein'...ich muss zur Uni. Jetzt!"
Total gestresst entledigte ich mich meiner Klamotten, um mir frische Kleidung anzuziehen, dann sprintete ich ins Bad fürs Zähneputzen und Haarekämmen.
Mir war bewusst, dass James mir gefolgt war und mich bei jeder einzelnen Tätigkeit schmunzelnd beobachtete, doch ich hatte weder Zeit noch klaren Verstand, um über so etwas nachzudenken.
Ich zog mir gerade meine abgewetzten Turnschuhe an, als neben mir vorsichtig mein Schulrucksack und meine Strickjacke abgelegt wurden. Überrascht blickte ich auf in das Ozeanblau von vorhin.
Ich will ans Meer. Am Besten mit ihm.
"Oh...danke, James!"
Schnell erhob ich mich, zog die Jacke an, schulterte meinen Rucksack und öffnete die Tür.
"Warte!", rief James leise lachend und hielt mich am Handgelenk fest.
Verwundert blieb ich stehen und bekam fast einen Herzinfarkt, als er mich tatsächlich schnell in seine Arme drückte und mir auch noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab.
"Äh...das...also...ähm...James?!"
Doch er lachte nur sein herrliches Lachen und scheuchte mich förmlich vor die Tür.
"Na los, sonst kommst du noch zu spät!", witzelte er grinsend.
"Ich wünsch dir einen schönen Tag, Kleiner."
Dann war die Tür zugefallen.

"Dieser...dieser verdammte...idiotische Traum von einem Mann!"
Auf dem Weg zur Uni, die ich glücklicherweise zu Fuß erreichen konnte, knirschte ich wild mit den Zähnen, um meinen Frust loszuwerden.
Ich hatte absolut keine Ahnung, wie das ab jetzt weitergehen sollte. Zwei Schwule unter einem Dach...durfte man so etwas überhaupt zulassen?!
Ich hatte eigentlich geplant, meine gesamte Energie fürs Lernen und die Uni zu nutzen, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, daraus würde nun nichts mehr werden.
Bereits am zweiten Tag unseres Wiedersehens stand ich so neben mir wie seit Langem nicht mehr. Ich war auch lange nicht mehr so spät dran gewesen wie heute. Trotzdem...ich wollte ihn auf keinen Fall meiden oder dergleichen. In seiner Nähe fühlte ich mich eigenartig wohl...und stark. Als könnte ich ganz allein Häuser bauen oder Bäume ausreißen, ich fühlte mich vielleicht sogar wie ein Superheld. Jedenfalls fühlte ich mich gut durch ihn, also konnte es nicht falsch sein, oder?
Allerdings kannte ich nur ein Gefühl, dass Menschen zu solche Gedanken brachte...aber dafür war es noch eindeutig zu früh.
Niemals. Niemals kann das schon Liebe sein.
Den Rest des Tages war ich fast völlig geistesabwesend, theoretisch hätte ich also gleich Zuhause bei James bleiben können.
Oh, da ist er ja schon wieder. James ist wohl in meinen Kopf umgezogen.
Gegen 17 Uhr betrat ich erschöpft die WG und hoffte innerlich, nicht auf Felix oder Fanny zu stoßen, denn das hätte ich echt nicht ertragen können. Zum Glück waren sie wieder außer Haus.
Allerdings gab es jemanden, der anscheinend den ganzen Tag hier geblieben war.
Und dieser jemand saß halbnackt auf der Couch und las ein Buch.
Och nö.

Grown up now (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt