Eine Schnapsidee

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Es ging also weiter in meinem Leben. Alles nahm seinen unscheinbaren, normalen Lauf und es war eine Zeit lang selbst für mich fast so, als wäre all das nicht passiert. Ich besuchte unter der Woche jeden Tag die Schule, machte danach meine Hausaufgaben und ging am Nachmittag meinen Hobbies nach. Es war ein ganz normales Teenieleben eben.
Samstags traf ich mich in der Kirche mit meinen Freunden aus der Jugend und unternahm auch Nachmittags und Abends oft was mit ihnen.

Ganz besonders mit Lea verbrachte ich viel Zeit. Wenn wir uns trafen, dann quatschten und lachten wir oft bis mitten in die Nacht hinein. Es war die Zeit, in der wir begannen, auch über ernste Dinge zu sprechen und nicht nur über Albernheiten zu lachen oder uns über belanglose Dinge zu unterhalten (was natürlich auch dazugehört in dem Alter ;)).

So erzählte ich ihr eines Abends, als wir allein in meinem Zimmer waren, dass mein Opa mich sexuell missbraucht hatte. Sie reagierte sichtlich geschockt. Doch sie hörte mir verständnisvoll zu und nahm mich in den Arm. Eine echte Freundin eben!
Danach erzählte auch sie mir etwas, dass sie erst vor kurzem erfahren hatte, und das sie sehr traurig stimmte: Ihr Vater war gar nicht ihr leiblicher Vater. Ihre Mutter war wohl einmal fremd gegangen und dabei schwanger mit Lea geworden. Als Leas Vater erfuhr, dass das Baby gar nicht von ihm war, war er verständlicherweise sehr aufgebraucht und vermutlich auch verletzt und enttäuscht von seiner Frau. Um Leas Willen hatte das Ehepaar jedoch entschieden zusammen wohnen zu bleiben. - Was mich schon immer gewundert hatte war, dass der Vater von Lea unten im ausgebauten und wohnlich gestalteten Keller schlief und ihre Mutter oben das Ehebett für sich alleine hatte. Das kam mir sehr merkwürdig für ein Ehepaar vor. Jetzt verstand ich den ganzen Zusammenhang. Ihre Eltern hatten nun aber beschlossen, dass Lea alt genug war, die Wahrheit zu erfahren. Sie hatten es ihr erzählt und auch gleichzeitig den Beschluss, sich zu trennen, erwähnt.
Das musste echt ein riesen Schock für Lea gewesen sein und es zeugte von großem Vertrauen, dass sie mir das sagte! Beide versprachen wir uns, niemandem diese Geheimnisse zu verraten. Von da an waren wir noch enger miteinander verbunden und klebten aneinander wie bunte Streusel auf Zuckerguss.
Bis ins Detail planten wir unsere gemeinsame Zukunft. Zusammen wollten wir das Abitur machen, dann später studieren und in einer WG wohnen.
Doch scheinbar nahm Lea dieses Vorhaben ernster als ich, denn eines schönen, sonnigen Tages brachte sie mit fogendem Vorschlag vor: "Hey Sarah, ich habe voll die gute Idee! Ich kenne da ein Internat. Dort können wir zusammen wohnen und unser Abitur machen. Komm, lass uns da mal eine Woche hin gehen und uns das Ganze anschauen!"  Zusammen hatten wir uns auf die große, saftig grüne Wiese vor unserem Gottesdienstgebäude gelegt und die Schäfchenwolken am Himmel betrachtet. Völlig überrumpelt setzte ich mich auf und schaute sie verwundert an: "Nee, was soll ich denn in nem Internat?"

In meiner Vorstellung gingen nur Kinder, die Probleme mit ihren Eltern hatten auf ein Internat. Das waren Kinder, mit denen die Eltern nicht mehr zurecht kamen und die Kinder nicht mehr mit ihren Eltern. Aber bei mir war doch alles palletti Zuhause. Ja, gut, ich hatte momentan das Gefühl mein Vater versteht mich überhaupt nicht, aber deswegen gleich komplett ausziehen und meine restliche Schulzeit in einem Internat fristen? Nee, dazu hatte ich keine Lust.
Aber wenn ich nun glaubte auf ein anderes Thema lenken zu können, hatte ich mich getäuscht. Lea war eine der hartnäckigsten Personen,die ich kannte. Wenn sie etwas wissen oder erreichen wollte, ließ sie sich niemals ablenken. Selbst wenn es einem gelang, kurz auf ein anderes Thema umzuschwenken, kam sie immer wieder auf das zurück, was sie interessierte.
"Das wird voll lustig! Ich frage Malte auch noch, ob er mitkommen möchte. Wir drei auf nem Internat, das wäre echt cool!", versuchte mich Lea nun zu überreden. Ich war immer noch nicht überzeugt: "Was soll ich denn da? Warum soll ich da denn ne Woche hin? Ich werde eh nicht auf das Internat gehen!" Lea ließ nicht locker: "Ach komm schon! Schau es dir wenigstens mal an. Danach kannst du ja immer noch entscheiden, ob du hin willst oder nicht!" Ich seuzte. Lea immer mit ihren Schnapsideen. Aber was sollte es, es würde sicher lustig werden, da hatte sie ja Recht. Keiner würde mich hinterher zwingen in dieses Internat zu gehen.
"Also gut, warum nicht...aber du kümmerst dich um alles, ja?" "Klaro, wird gemacht!"
Gesagt, getan. Lea hatte mit der Leiterin des Internat's gesprochen und mir dann folgende Informationen weitergeleitet: Wir könnten im September eine Woche in das Internats- und Schulleben "reinschnuppern". Dafür würden wir eine Bescheinigung erhalten, die wir dem Sekretariat unserer jetzigen Schulen vorlegen konnten und somit für diese eine Woche entschuldigt sein würden. Das hörte sich doch gut an. Eine Woche lange keine Schule. Naja, fast. In die Schule würden wir ja trotzdem gehen, nur eben dort.

Dann war der Tag da, an dem wir losfahren würden. Malte wollte auch mitkommen und sein Vater hatte sich bereit erklärt uns zum Internat zu fahren, weil er zufällig selbst etwas in der eineinhalb Stunden entfernten Stadt zu erledigen hatte. Lea war schon ganz aufgeregt. Euphorisch und bestens gelaunt empfing sie mich. Malte grinste mich schelmisch an und umarmte mich zur Begrüßung. Als all das Gepäck im Auto verstaut war, konnte es losgehen.

Irgendwie war ich jetzt auch gespannt. Was würde mich dort erwarten? Ich hatte mir vorgenommen, dem Ganzen eine Chance zu geben. Erst einmal wollte ich offen alles auf mich wirken lassen und mir dann am Schluss meine Meinung bilden. Mittlerweile freute auch ich mich über die willkommene Abwechslung. Die Aussicht darauf, zusammen mit meinen Freunden eine Woche eine mir ganz fremde, neue Umgebung zu erkunden, war irgendwie aufregend.

Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt