Kapitel 1

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Es war Nacht und niemand sah sie.
Sie saß auf einem Baum direkt vor einem Haus. Irgendwo schrie eine Katze und ein Hund bellte. Sie sah sich um, aber in der Dunkelheit konnte sie keine Katze sehen. Ihr wurde schwindelig und sie drohte zu fallen, dann...

Vera erwachte aus einem Traum, den sie schon gefühlte tausendmal geträumt hatte.
Sie saß immer auf dem selben Baum, vor irgendeinem Haus und in der Nähe bellte ein Hund und eine Katze schrie. 

Durch ihr Fenster schienen die ersten Sonnenstrahlen. Sie öffnete verschlafen die Augen.
Unten hörte sie ihre Mutter in der Küche. Es roch nach gebratenem Speck und Rührei augenblicklich lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Schläfrig stieg sie aus ihrem Bett und öffnete die Fenstertür zu dem kleinen Balkon. Die Balustrade war alt und die Farbe bröckelte bereits ab, weshalb sie so gut wie nie hinaus ging. Sie hatte Angst, dass das marode Ding einstürzten würde.

Eine frische kalte Brise kam ihr entgegen, sobald das Fenster geöffnet war. Sie schaute auf den Baum hinauf, dessen Äste sich bedrohlich zu ihr neigten, da der Wind sie durchschüttelte.

''Vera, kommst du zum Frühstück?'' rief ihr Vater.
Gedanken verloren stand sie am Fenster. Alles war ruhig und friedlich, wenn nur diese Unruhe in ihr nicht wäre. Es klopfte laut an ihrer Tür, erschrocken zuckte sie zusammen.
''Ja?'' fragte sie zögerlich. Ihr Vater betrat den Raum und schaute sie mürrisch an.
Patrick Proi, war ein großer, schlaksiger Mann. Ein rund-um-den-Mund Bart, zierte sein Gesicht. Die blau-grauen Augen lagen tief in den Höhlen und deuteten auf Schlafmangel hin. Sein schwarzes Haar war im Bradley Cooper Look geschnitten.

''Hast du mich nicht rufen hören? Das Frühstück ist fertig.'' Sie lächelte ihren Vater entschuldigend an. ''Tut mir leid ich...ich habe dich nicht gehört.'' Er nickte und verschwand.


Der Tisch war reichlich gedeckt, ihre Mutter hatte ihre Lieblingsblume, eine weiße Margerite, in die Mitte des Tisches gestellt. Wahrscheinlich, wollte ihre Mutter Vera den Abschied versüßen.
Ihr neues Zuhause sollte ein Internat in der Nähe von Salzgitter werden. Ihre Eltern glaubten, dass sie dort eine bessere Schulausbildung bekomme, als an ihrer jetzigen Schule. Vera war überzeugt, dass es nicht der einzige Grund war.

Seit Jahren fühlte sie sich überflüssig und nicht akzeptiert. Seit sie denken konnte, war das Verhältnis zwischen ihren Eltern und ihr angespannt. Weder ausführliche Gespräche noch liebevolle Umarmungen hatte es gegeben.

Schweigend setzte sie sich und gewohnheitsmäßig legte sie etwas Speck und Rührei auf ihren Teller, dazu nahm sie noch ein Brötchen. Großen Appetit hatte sie nicht, außerdem bekam sie Magenschmerzen, wenn sie nur daran dachte ihr Leben ändern zu müssen. Sie hasste Veränderungen. Der Gedanke, die Neue zu sein, machte ihr Angst.

Zwischendurch spürte sie den verlegenen Blick ihrer Mutter. Cassandra Proi, war eine kleine, schlanke Frau mittleren Alters. Ihr braunes Haar hatte sie zu einem strengen Dutt zusammen gebunden und ihre grünen Augen leuchteten förmlich. 
 

Niemand brachte ein Wort über die Lippen, also blieb es still. Wie immer!  Mit Mühe und Not würgte Vera ihr Essen hinunter.

''Wann fahren wir?'' unterbrach Vera das unangenehme Schweigen. ''Wir wollen um 10 Uhr dort sein, hast du Alles gepackt, wir müssen gleich los.'' Ihre Kehle war wie zugeschnürt, tapfer kämpfte sie gegen die Tränen und nickte.

Sie ging in ihr Zimmer, setzte sich auf ihr Bett und ließ den Blick durch ihr Zimmer streifen.
Diese kalten, weißen Wände mit den lila Ornamenten, die Blumen ähnlich sahen und doch keine waren. Ihr unbenutzter Schreibtisch, der Kosmetikspiegel an der Wand, die lila Vorhängen - alles wirkte zweckmäßig, gewohnt und doch lieblos und gedankenlos zusammengewürfelt -.
Im geöffnete Kleiderschrank lag nur noch eine hellblaue Jeans und ein schwarzer Pullover. Antriebslos zog sie sich um.

Vom Engel geküsst Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt