Teil 5

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Ich spürte förmlich, wie sich die Rädchen in meinem Kopf schmerzhaft drehten.
"Vor deinen Eltern? Aber...wieso?"
James hatte seine Augen noch immer geschlossen, so als würde er sich vor mir verstecken, obwohl er in meinen Armen lag. Als würde er mir ausweichen wollen.
"Zu meinem 10. Geburtstag... Ich war allein zuhause, weil meine Eltern arbeiten mussten. Sie kamen erst sehr spät zurück, doch ich hatte bis tief in die Nacht auf sie gewartet, um wenigstens mit ihnen ein Stück Kuchen essen zu können. Aber...dazu kam es nicht."
Ich schluckte. So begannen meist die schlimmsten Geschichten und ich hätte nie gedacht, eine solche ausgerechnet vom Sonnenschein James erzählt zu bekommen.
Er machte eine kurze Pause, da er plötzlich angefangen hatte, schwer zu atmen.
"James?! Wenn...es zu schwer für dich ist, musst du nicht..."
Doch er richtete sich nun endgültig auf und schüttelte benommen den Kopf.
"Nein, ich will es dir erzählen."
Er lehnte sich mit dem Rücken an die kühle Wand an und sah mir kurz in die Augen, bevor sein Blick zur kahlen Wand schweifte und sich an diese besessen heftete.
"Wie gesagt, sie kamen spät heim und sahen ihren kleinen Sohn in der halbdunklen Küche sitzen, mit einer Gabel in der Hand und Vorfreude im Gesicht. Ich denke, jedes andere normale Elternpaar hätte sich entschuldigt, dass es so spät geworden war, und sich zu ihrem Kind an den Tisch gesetzt, doch nicht meine. Nein, meine waren immer...speziell gewesen."
Ich konnte mir allmählich denken, in welche Richtung es ging. Trotzdem spürte ich eine Heidenangst in mir.
"Jedenfalls...als sie mich dort so sitzen sahen, wurden sie wütend. Sehr wütend. Mein Vater riss mich vom Stuhl, zerrte mich in Richtung Abstellkammer, während meine Mutter mich anschrie, ich hätte längst im Bett sein sollen. Dann sperrte mein Vater mich bis zum nächsten Morgen in unserer Abstellkammer ein, ohne das Licht einzuschalten. Aber das Schlimmste daran war..."
Ich hatte mich inzwischen fest in den Stoff meiner Hose gekrallt. Das war einfach zu viel. Dabei war er noch nicht einmal fertig.
"Ich war schon damals...klaustrophobisch. Nur zwei Minuten in dieser Kammer und ich bekam einen so heftigen Anfall, dass ich irgendwann aus Sauerstoffmangel ohnmächtig wurde und erst am nächsten Morgen durch eine Ohrfeige meiner Mutter aufwachte."
Ich sah James an. Während dem Erzählen war er blass geworden und seine Atmung war schneller als zuvor. Endlich, endlich sah er mir in die Augen, in ihnen standen Angst und Trauer und Wut geschrieben. Langsam stiegen Tränen in seinen Augen auf.
"Das...war nicht der erste extreme Fall. Sie taten sowas oft, viel zu oft für einen kleinen, zerbrechlichen Jungen wie mich. Nach diesem Vorfall packte ich meine Sachen und floh. Tja...und so haben wir uns kennengelernt."
James weinte und mein Herz weinte mit.
Wie konnten sie ihm das nur antun? Wieso tun Menschen das ihren Kindern an? Wie kann diese Welt das zulassen?
Ohne ein weiteres Wort beugte ich mich vor, drückte ihn an mich und begann ebenfalls zu weinen. Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Pose anhielt, doch danach hatte ich Rückenschmerzen.
"James...das tut mir unglaublich leid. Aber wieso hast du damals nichts gesagt? Wir hätten...uns um dich kümmern können! Wir hätten dich beschützen können..."
Er krallte sich mit der linken Hand in mein Shirt.
"Ich war 10. Jung, naiv, verängstigt. Ich dachte, wenn ich es jemandem sage, lande ich am Ende wieder bei ihnen...ich hatte keine Wahl."
Ich nickte, obwohl er es sowieso nicht sehen konnte. Dann löste er sich von mir, um mir ein ungeschicktes Lächeln zu schenken.
"Ich war aber trotzdem froh, dich am Bahnhof gefunden zu haben. Es war...wie ein Hoffnungsschimmer, der mir wieder Mut gemacht hat. Deine Mutter genauso."
Ich lächelte unter Tränen, denn seine Worte waren es, was ich gebraucht hatte. Und James hatte jemanden gebraucht, der ihm zuhörte, nur einmal.
Trotzdem...ich konnte einfach nicht fassen, was für schreckliche Menschen es gab. Obwohl ich seine Eltern nicht kannte...verabscheute ich sie zutiefst.
Wir gingen beide unseren Gedanken nach, die Stille umhüllte uns dabei wie ein warmer Schleier der Ewigkeit. Die Zeit wurde zur Illusion und langsam suchten sich unsere Hände, bis sie sich letztendlich gefunden hatten, um sich dann ineinander zu verhaken.
"Davin...?"
Ich sah James in die Augen, in denen ich jetzt nicht mehr Angst und Verzweiflung erkennen konnte, sondern ein anderes, warmes Gefühl, welches ich nicht so ganz identifizieren konnte.
"Ja?"
Auf einmal lag ich unter ihm auf der harten Matratze, während er noch immer meine Hand hielt, nur diesmal über meinem Kopf.
Nun wusste ich, was Dominanz war.
"James...was machst-"
Doch bevor ich meine Frage beenden konnte, legte er seine zweite Hand auf meinen Mund und küsste diese an der Stelle, wo meine Lippen unter seiner Hand lagen.
Ich war perplex, verwirrt, vollkommen fertig und, was auch sonst, übertrieben rot geworden.
Als James mein Gesicht sah, konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen.
"Was zur Hölle?!", rief ich völlig außer mir, obwohl ich eher verlegen als wütend war.
Wieso konnte dieser Junge einfach alles tun, was er wollte, und ich ließ es zu?
Vielleicht...hatte ich ja nichts dagegen...es ist schließlich James.
Heilige Scheiße, meine Gedanken!
Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihm einige Dinge ins Gesicht zu sagen, die ihn diese peinliche Situation hätten erklären lassen, doch meine Pläne wurden wieder einmal vereitelt.
James' Zimmertür wurde plötzlich mit einem lauten Knall aufgetreten.
Ehrlich, es klang, als wäre sie aus der Halterung gerissen oder so.
Im Türrahmen stand kein anderer als Felix.
"Macht gefälligst leiser, ihr Idioten! Wieso könnt ihr nicht tagsüber rummachen, so wie alle normalen Leute auch?!"
Und dann war Felix auch schon wieder weg, wie das gruselige Phantom der Nacht.
Ja, gruselig traf es ganz gut.
Leider hatte Felix' Spruch das Ganze nur schlimmer gemacht. James hatte plötzlich einen ziemlich pädophilen Blick drauf, weshalb ich der Meinung war, diesen Abend so schnell wie möglich zu beenden.
Ich rannte förmlich zur Tür, doch bevor ich sie ebenfalls lautstark hinter mir zuknallte, sah ich nochmal zu dem erwachsen gewordenen Jungen, der eben noch in meinen Armen geweint hatte.
"Geht es...dir jetzt etwas besser?"
Er wirkte erst etwas überrascht, diese Frage gestellt zu bekommen, doch dann lächelte er engelsgleich.
Ein angenehmes Ziehen in meiner Magengegend trat ein.
"Ja, viel besser. Und das nur dank dir, Kleiner. Du bist...ein echt guter Zuhörer."
Seine Worte freuten mich ungemein. Ich war zufrieden mit dem Ergebnis der Nacht und konnte wieder in mein Zimmer gehen.
"Gut."
"Ach ja...Davin?"
Ich drehte mich noch einmal zu ihm um.
"Hm?"
Er wirkte zum allerersten Mal verlegen, auch wenn es nur ein Hauch der Verlegenheit war. Seine Augen schimmerten wunderschön im Kerzenlicht.
"Danke, Davin."
Ich nickte mit glühenden Wangen. Mein Herz füllte sich mit tausenden von brennenden Pfeilen, die gleichzeitig schmerzten und vor Freude loderten.
"Jederzeit, James."
Damit verließ ich sein Zimmer.

Es folgten einige Tage, in denen ich mich endlich wieder beim Essen blicken ließ, auch wenn ich viel zu tun hatte.
Jedoch hatte sich noch etwas verändert. James war nicht mehr so häufig in unserer WG vorzufinden, wie zuvor.
Fanny hatte erzählt, er wäre bei seinem Praktikum beschäftigt, weshalb er oft erst spät kam, doch meistens sah ich ihn überhaupt nicht.
Irgendwie missfiel es mir, dass ich gar nichts über sein Praktikum gewusst hatte.
Auf einmal wurde mir klar, wie viel ich noch nicht von ihm wusste: weshalb er in diese WG gezogen war, was er die letzten Jahre so getrieben hatte, wie er klar gekommen war, was er mochte und was er hasste.
Ebenso wenig wusste er schließlich auch von mir.
Wir hatten uns beide verändern, waren älter geworden und reifer, hatten uns allerdings beide vermisst.
Ich verspürte den Drang, mehr von ihm zu wissen, mehr von ihm in Erfahrung zu bringen, ihn kennenzulernen. Ich wollte mehr Zeit mit ihm verbringen, bei ihm sein.

Grown up now (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt