Kapitel 4

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Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, kam der kleinen Trupp in Trymor an. Ein reges Treiben herrschte hier auf den Pflasterwegen, ganz anders als in Narsar. An jeder Ecke gab es etwas zu sehen, den Bäcker, der sein frisches Brot vor dem Laden auf einem kleinen Holztisch stapelte, der Metzger, der mit dem Schlachten eines Rindes beschäftigt war oder auch die Kräutertanten, die auf Holzbänken saßen, Kräuter mahlten und Gewürze kosteten. Jeder ging jetzt seines Weges und erledigte Einkäufe, sah sich ein bisschen um und genoss für kurze Zeit das Leben in einer Stadt, das so anders war als in dem kleinen Dorf. Gweneth sah noch, wie der dickbäuchige Mann und der Jüngling in Richtung Bäcker gingen, als ein zerlumpter Junge sie anrempelte.

 „Verzeihung, ich habe dich gar nicht gesehen. Alles in Ordnung? Ja, dann nochmals Verzeihung, einen schönen Tag noch."

Und weg war er auch schon wieder. Verdutzt ging das Mädchen ihres Weges. Ihre Großmutter hatte ihr aufgetragen zwei frische Stücke Wurst zu besorgen. Als sie vor dem Laden des Metzgers stand, war ihre kurze Begegnung mit dem Jungen auch schon wieder vergessen. Die Türglocke lies ein fröhliches Klingeln hören während sie eintrat, woraufhin der Metzger hinter den Tresen trat.

„Was kann ich für dich tun, kleines Mädchen, was darf es denn sein? Rind, Schwein, oder Huhn?" Mit seinen wurstigen Fingern griff er nach einem großen Stück Fleisch und hielt es ihr über den Tresen hin. „Vielleicht dieses gute Stück hier?"

Gweneth sah den Metzger über das Stück Fleisch hinweg an: „Nein danke, ich hätte stattdessen gerne zwei gute Würste."

„ Ahh, eine gute Wahl." Er grabbelte die Würste zusammen und reichte sie ihr. 

„ Darf es noch etwas sein?"

„Das wäre alles", erwiderte sie höflich und nahm die Würste entgegen.

„Drei Taler macht das dann."

 Ihre zierlichen Finger glitten in das kleine Ledertäschchen, das sie bei sich trug, und fanden nichts. Keine Taler, ihre ganzen Ersparnisse, die sie von der Großmutter für Lebensmittel bekommen hatte, waren weg.

„D-das kann gar nicht sein. Meine Taler sind weg. Ich bin mir sicher, dass sie gerade eben noch in der Tasche waren!"

Der Metzger sah das Mädchen mit bedrohlicher Miene an. „Möchtest du mir jetzt sagen, dass du Wurst kaufen wolltest, ohne zu bezahlen?" Seine Stimme schwoll an, während er um den Tresen ging und sich vor sie stellte. „Ich gebe doch keine Wurst raus, ohne Taler dafür bekommen zu haben. Was denkst du dir dabei?"

Eingeschüchtert durch den bulligen Metzger trat sie einen Schritt zurück. „Nein, ich wollte ganz sicher die Wurst bezahlen, etwas anderes würde mir gar nicht in den Sinn kommen."

 Da fiel es ihr wieder ein: Der Junge, der sie angerempelt hatte, war so schnell wieder weg, und davor hatte sie die Taler noch – sie war sich ganz sicher. Er musste sie ihr gestohlen haben. Rückwärts ging sie zur Tür. Der Metzger kam langsamen Schrittes hinterher. Die Türglocke erklang wieder, Gweneth lies die Würste in ihrem Arm fallen und stürzte hinaus, bevor noch irgendetwas passieren konnte. Ohne sich umzudrehen lief sie den Weg entlang, den sie gekommen war. Lange konnte sie noch das Gebrülle des Metzgers hinter sich hören. In einer kleinen Gasse machte sie halt, stützte sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab und musste tief Luft holen. Keine Taler, keine Lebensmittel, das waren die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen. Sie musste den Jungen suchen und das sofort, denn der Marsch zurück ins Dorf stand auch noch bevor und sie hatte noch nichts besorgt von dem, was ihr die Großmutter aufgetragen hatte. Den Weg zurück zu der Stelle, an der sie der Junge angerempelt hat, wurde durch die treibende Menschenmenge erschwert. Als sie dort ankam, war der Junge natürlich nicht da. Was hatte sie auch anderes erwartet? Mit Sicherheit wartet ein Dieb nicht darauf, dass sein Opfer zurückkehrt und ihm Schwierigkeiten macht. Wäre auch Irrsinn. Gweneth fragte sich also durch, ob die umstehenden Menschen einen Jungen, etwa in ihrem Alter gesehen hätten. Sie wollte die Suche schon fast aufgeben, als eine ältere Dame meinte den Jungen zu kennen. Laut ihrer Aussage streunte er hier öfters herum und beklaute die Menschen. Ein Mann erinnerte sich sogar daran, dass er ihn abends in einer verlassenen Hütte, gleich den Pflasterweg entlang der Wohnhäuser, gesehen hätte.

Das Mädchen bedankte sich und machte sich, ihrer aufkeimenden Wut bewusst, auf den Weg zu der Hütte. Warum musste er gerade sie beklauen? Nur weil sie klein und zierlich war? Das bisschen Geld, das ihre Großmutter und sie gespart hatten, würde sie sich nicht wegnehmen lassen von einem dahergelaufenen Burschen, dessen war sie sich sicher. Auch wenn er doppelt so groß und alt war, das kleine Mädchen mit den stahlgrauen Augen würde nicht klein beigeben. Ihre Wut auf den Jungen verstärkte sich und ihre Schritte wurden energischer. Eine innere Hitze schien sie zu ergreifen, sich ihren Weg durch den Körper zu bahnen – unaufhaltsam und unberechenbar.


Karvog IlyumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt