+ Kapitel 4.4: Lass ich nicht los +

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„Ich halt dich nicht fest. Und lass dich nicht los." (AnnenMayKantereit – Pocahontas)


Es war spät geworden gestern. Und nun war es eigentlich zu früh für mich. Ich hatte wenig geschlafen, aber das hielt mich nicht davon ab, mich komplett in meiner Arbeit zu verlieren. Es gab ja Coffein.
Seufzend blickte ich mich im Atelier um.
Bild 5. Es war fertig. Lag zum Trocknen auf dem Boden, einfach so, ohne Schutzfolie, ich hatte es einfach dort hingelegt, um Platz zu haben.
Bild 6 trocknete an, damit ich später daran weiter malen konnte.
Und Bild 7 war gerade das Bild, an dem ich arbeitete. Ich wusste beim besten Willen nicht, warum ich mich dazu entschieden hatte, gerade dieses Bild auf die Leinwand zu bringen.
„Tief durchatmen", flüsterte ich mir selbst zu, als ich in das halbfertige Gesicht von Ina blickte. Es hatte sich mittlerweile tief in meine Gedanken gebrannt. Eines dieser Gesichter, die ich wahrscheinlich nie wieder loswerden würde. Und dennoch hatte ich mich gut geschlagen, ich war noch nicht durchgedreht wegen ihr. Oder wegen Flo. Oder wegen Beiden.
Oft schrie und weinte ich, in irgendein Kissen, um die Nachbarn nicht zu stören. Um meine eigenen Schreie und mein eigenes Schluchzen nicht zu hören. Es war wie ein Fluch, der nie enden wollte, und ich überlegte mir oft, warum ich nicht einfach geblieben war, dort drüben, am anderen Ende der Welt. Doch jetzt, es wirkte einfach so weit weg, so surreal, als ob ich das alles niemals erlebt hätte.
Alles hier erinnerte mich an ihn. Er hatte mir beim Einzug geholfen und überall hafteten nun Spuren von ihm. Spuren, die zu Gedanken führten, die dazu führten, dass es mir nicht gut ging. Und dennoch hatte ich es irgendwie geschafft, Ina auf die Leinwand zu bringen. Ohne durchzudrehen. Wie, war mir ein Rätseln.
„Noch eine Woche", murmelte ich mir aufmunternd zu. In einer Woche war es vorbei und ich konnte wieder das tun und lassen, was ich vorher auch schon getan hatte. Ohne Flo. Ohne das Special. Ohne etwas zu tun, was mich ablenkte...
Seufzend stellte ich Bild 7 zur Seite und nahm mir eine neue Leinwand. Vielleicht würde ich es fertig stellen, vielleicht würde ich es aber auch irgendwann komplett verdrängen. Ich wusste es nicht.
„Eine Woche", murmelte ich weiter vor mich hin.
Mit nachdenklichem Blick kramte betrachtete ich die leere, weiße, kahle Leinwand, wandte mich dann aber ab, als mein Handy vibrierte. Mein Herz blieb stehen und ich hoffe sehr, dass es nicht die Person war, mit der ich mich noch nicht konfrontieren konnte.
‚Die Bilder bringe ich einen Tag vor dem Special zu dir. Antworte mir nicht. Thea', das hatte ich geschrieben. Mehr nicht. Und dennoch war es mir wichtig gewesen, ihn wissen zu lassen, dass er nicht komplett durchdrehen musste, wegen dem Special. Das bedeutete ihm doch so viel.
Der Gedanke an ihn tat immer noch so weh. Er tat unfassbar weh und ich fragte mich, wie ich das aushielt. Ich fragte mich, wie ich einfach so weiter machen konnte. Vielleicht hatte Sue ja doch irgendwie geholfen. Natürlich hatte sie das, ohne sie wäre ich jetzt nicht hier, aber auch wenn ich lange nicht mehr mit ihr geschrieben oder gesprochen hatte, wusste ich, dass ich irgendwie das Richtige machte. Und ihre Nachricht, die mir gerade entgegen leuchtete, unterstützte diese These nur.
Ich handelte kontrolliert. Nach dem ersten Schock war ich nun in der zweiten Phase angelangt, wie Sue mir irgendwann mal erklärt hatte. Der Schock war vorbei und nun versuchte ich es nicht wirklich wahrhaben zu wollen, ich versuchte in den alten Mustern zu bleiben und mich abzulenken. Und ich wollte ehrlich gesagt nicht, dass es endete. Doch das würde es. Unweigerlich.
Phase 3. Ich würde mich vielleicht wieder komplett zurückziehen, in meine eigenen vier Wände, es würde werden wie damals. Ich würde alles komplett ignorieren, zu wenig essen, zu wenig schlafen, zu viel Schmerz fühlen. Die Phase, in der Sue damals für mich da gewesen war. Sie hatte mich dort abgeholt und mir geholfen. Doch das hieß nichts, jede Trauer war anders. Jeder Mensch trauerte anders. Und jeder Mensch konnte bei unterschiedlichen Verlusten unterschiedlich trauern. Manche zogen sich zurück, manche übersprangen diese Phase. Und manche wurden fanatisch. Suchten den Verlorenen in gemeinsamen Erinnerungen, in dem gemeinsamen Erlebten. Und ich hoffte sehr, dass ich nicht so enden würde.
Seufzend betrachtete ich die leere Leinwand. Ich sollte nicht über so etwas nachdenken, es tat mir doch nicht gut. Und das wusste ich genau.
‚Mach dir keine Sorgen um mich, Sue. Ich bin wieder da. Dienstag?', tippte ich eine kurze Antwort auf ihre Frage, ob alles okay war, und seufzte. Es war das einzig Richtige – im Moment –, auch wenn ich mich in ein paar Minuten, Stunden oder Tagen dafür verfluchen würde.

Das Blumenmädchen (LeFloid)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt