Es ist endlich wieder diese Zeit im Jahr, ich habe so lange darauf gewartet, dass du endlich ankommst! Ich muss dich nirgendwo abholen, an keinem Bahnhof, keinem Flughafen und auch an keiner Bushaltestelle. Das einzige, was ich tun muss, ist, einen Schritt nach draußen zu wagen, wo du bereits auf mich wartest. Du heißt mich willkommen in deiner eisigen und alles umfassenden Umarmung, die mir so sehr gefehlt hat. Ich habe plötzliche große Lust, einen Spaziergang mit dir zu machen. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen, es muss unzählige Geschichten geben, die wir uns noch erzählen müssen.
Ohne einen konkreten Plan wohin, gehen wir einfach los. Das erste was du tust, ist mir ein Kompliment für meinen neuen Schal und meine kuscheligen Winterboots zu machen. Wir kennen uns inzwischen schon so lange, ich habe bereits vermutet, dass du so frostig und kalt wie immer sein würdest - und ich hatte Recht!
Die meisten Menschen die ich kenne, fühlen sich in deiner Begleitung nicht wohl und hoffen einfach, dass du genauso schnell wieder verschwinden wirst, wie du aufgetaucht bist. Ich kenne ihr Problem: Sie verstehen dich nicht. Für sie ist deine Stimme nicht mehr als ein kaum hörbares Wispern, das sie verfolgt. Ich bin so froh, dass ich es besser weiß.
Du fängst an, mir Geschichten zu erzählen, von all den glücklichen Menschen, die in diesem Moment in ihrer Küche vor dem Ofen stehen. Von Kindern mit strahlenden Augen, die durch die Glasscheibe beobachten, wie sich Teig wie von Geisterhand auf einmal in köstliche Kekse verwandelt. Du schickst mir ihren Duft direkt in meine Nase und in meinem Mund entsteht der Geschmack von Kindheit und Glück.
Während wir beide durch die menschenleeren Straßen wandern, merke ich, wie ich ruhiger und ruhiger werde. Du weißt, wie sehr ich diese Stimmung mag, wenn man alleine ist, aber nicht einsam, weil die vielen hell erleuchteten Fenster einen daran erinnern, dass auch die Stille randvoll mit Leben ist. Aber nur wenn du da bist, nehmen sich die Leute die Zeit, das Schöne zu sehen. Du füllst die Stadt mit Licht, Menschen mit Dankbarkeit, Herzen mit Liebe und Stunden mit Zeit.
Ich höre deine Stimme überall: in den rauschenden Bäumen, die mir davon berichten, dass bald all ihre bunten Farben verschwunden sein werden. In dem eisigen Wind, der mich an die warme Kuscheligkeit meines Bettes erinnert. Und in dem Gezwitscher der allerletzten Vögel, die ein Abschiedslied singen und versprechen, bald wiederzukommen.
Deine unsichtbare Hand ergreift meine und führt mich an all die Orte, die du mir noch zeigen möchtest.
Und obwohl ich dich noch nie gesehen habe und dich auch niemals sehen werde, weiß ich genau, was du tust: Du kehrst mein Innerstes nach Außen, wunderschöner Winter.
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Winter
Non-FictionEine kurze Geschichte über die Schönheit der von so vielen gehassten Jahreszeit