Die Woche neigte sich dem Ende zu. Ich hatte Vieles gesehen, war in die Schule vor Ort gegangen und hatte neue Bekannschaften gemacht. Jungs gab es hier auch ein paar ganz ansehnliche, aber bisher niemanden, der mich wirklich interessierte.
Was soll ich sagen? Am Ende kam mir dieses anfänglich so trostlos wirkende Internat gar nicht mehr so schlimm vor. Die Menschen waren echt nett hier. Ein paar Mädels aus meiner Jahrgangsstufe hatten zu mir gesagt, dass ich unbedingt auch auf's Internat kommen solle. Es sprach tatsächlich einiges dafür mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Die Lehrer der Schule waren alle zum größten Teil christlich, was man auch merkte. Sie waren oft begeistert von dem, was sie lehrten, hatten viel Verständnis für ihre Schüler und waren sichtlich an dem Fortschritt ihrer Schützlinge interessiert. Das gefiel mir sehr. Außerdem würde ich Tür an Tür mit meinen potentiellen Freunden wohnen. Wir könnten auch zusammen für die Schule lernen.
Andererseits war von mir ein hoher Grad an Selbständigkeit gefordert, würde ich die Schule besuchen wollen. Und ich wäre getrennt von meiner Familie. Dazu kam, dass die Schule eine Privatschule war. So kam schon allein für deren Besuch eine feine Summe zusammen, die monatlich bezahlt werden musste. Zusätzlich war das Wohnen im Internat und das Essen in der Mensa sehr teuer. Mein Vater verdiente nicht schlecht, aber wir waren eine fünfköpfige Familie und meine Eltern hatten gerade einen Kredit für den Bau eines Hauses aufgenommen. Finanziell war es meinen Eltern also nicht möglich mich in meinem Vorhaben zu unterstützen.
Ein paar der Jugendlichen, die dort in die Schule und in's Internat gingen, erzählten, dass sie vom Bafögamt Unterstützung bekommen und zusätzlich arbeiten würden, um sich das Ganze leisten zu können. Es gab also ein Möglichkeit. Jetzt musste ich mir nur noch im Klaren sein, was ich wollte.Am letzten Abend, es war ein Samstagabend, lagen Lea und ich in unseren Betten und sprachen über die vergangene Woche:
"Und, wie fandest du es hier?", wollte Lea von mir wissen. "Ja, war okay.", erwiederte ich. "Okay?", bohrte Lea weiter. " Ja, du hattest Recht. So schlecht ist das hier gar nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen hier mein Abitur zu machen." "Wusst' ich's doch! Ich find's auch mega cool hier!Komm lass uns zusammen hier her kommen!" ,rief Lea begeistert. "Keine Ahnung ob das klappt! Das geht nur, wenn ich Bafög bekomme. Deswegen kann ich dir nichts versprechen!", bremste ich sie etwas aus. Lea, wie sie nunmal war meinte aber hartnäckig: "Ach Quatsch! Das klappt schon! Oh das wird so cool! Sarah, stell dir mal vor,du und ich hier auf dem Internat. Das wird voll lustig! Malte weiß es noch nicht so genau, aber den überreden wir auch noch! Versprich mir, dass wenn das klappt mit Bafög, dass wir das hier zusammen machen!" "Klar, alleine hab ich da eh keine Lust zu!", versprach ich ihr. Langsam merkte ich, wie die Müdigkeit mich zu übermannen begann. Ich dachte daran, dass meine Mutter Lea und mich morgen Nachmittag abholen würde. Malte wurde wieder von seinem Vater abgeholt. Keine Ahnung warum. Ich glaube sie wollten noch etwas zusammen unternehmen. Malte war cool. Es wäre bestimmt nett, wenn er mit uns das Internat besuchen würde. Malte, Lea und ich, wir wären ein lustiges Gespann. Das waren meine letzten Gedanken, bevor ich schließlich einschlief.Am Sonntagmorgen gingen Lea und ich ein letztes Mal die Mensa, um dirt zu frühstücken. Weil Sonntag war, hatte die Mensa länger auf und so gingen manche Schüler früher und manche, so wie wir, erst später zum Essen. Als wir den Speisesaal betraten, saßen, wie zu erwarten, nur Wenige um die Tische herum. Sie saßen in Gruppen von zwei bis drei Leuten zusammen und löffelten ihr Müsli oder schmierten sich ein Toast, während sie sich über dies und jenes unterhielten. Manche sagten auch gar nichts. Das waren dann wohl Morgenmuffel.
Lea war noch dabei sich in ihre Schüssel mit Cornflakes Milch hinein zu schütten, während ich mir mit meinem Tablett schon einen Platz suchte. Mein Blick wanderte durch den Raum. Dort saßen ein paar Mädels. Die waren so ne eingeschworene Gruppe. Ich hatte keine Lust mich dort aufzudrängen. Sollte ich einen leeren Tisch bevorzugen? Es gab einige leere Tische im Saal. Nein, dazu hatte ich auch keine Lust.
Da entdeckte ich Arthur. Er war während der Woche, in der ich die Schule besucht hatte,in meine Klasse gegangen. Als Kollegiat, hatte er auch noch Mitte 20 die Möglichkeit sein Abitur nachzuholen. Arthur war ein lustiger, lauter Geselle, der selbst geduldige Lehrer mit seinen vielen Fragen oft in den Wahnsinn trieb. Er hielt manchmal den ganzen Unterricht auf, weil er Fragen stellte, die sich eigentlich erübrigten. Aber so war er nun mal, der Arthur. Ich mochte ihn irgendwie trotzdem.
Kurzerhand entschloss ich mich also, mich zu ihm zu setzen. Mit dem Tablett in der Hand stand ich nun vor dem Tisch, begrüßte ihn und fragte, ob ich mich setzen dürfte. Arthur grinste mich an und bejahte meine Frage.
Da fiel mir auf einmal der andere Junge auf. Arthur stellte ihn mir mit dem Namen Lars vor. Er hatte dunkelblondes, längeres Haar, dass ihm schräg ins Gesicht fiel. Das Gesicht war schmal und er hatte hohe Wangenknochen. Insgesamt aber war es sehr kantig, was sehr männlich aussah. Seine Gestalt war eher schlaksig, aber sportlich. Unsere Blicke trafen sich schüchtern und ich lächelte ihn an. Er hatte wunderschöne Augen. Blau- Grün. Seine Wimpern waren unglaublich lang und gerade. Soetwas hatte ich noch nie gesehen. Lars Augenbrauen waren viel dunkler als seine Haare, fast schon dunkelbraun und hatten an der höchsten Stelle eine sehr attraktiv wirkende kantige Form. Auch seine Lippen waren voll und bestimmt sehr weich.Um den Hals hatte er einen grauen Wollschal. War Lars krank?
"So eine Digitalkamera hat meine Schwester auch!" Die ganze Zeit hatte ich Lars betrachtet und gar nicht so schnell registriert, dass er mit mir redete. "Äh, wie? Die Kamera? Ach ja? Cool!" Ganz aus der Fassung war ich. Wie konnte dieser Junge mich so durcheinander bringen? Er gefiel mir sehr! "Jetzt reiß dich zusammen!", sagte ich mir im Stillen und räusperte mich leise und verlegen mit vorgehaltener Faust.Lea kam nun zu uns und setzte sich ebenfalls. Mit der Zeit entwickelte sich ein angeregtes Gespräch. Die anfänglich zurückhaltende Befangenheit hatte sich gelegt. Doch am Meisten redete Arthur. Aber auch wir anderen waren bester Laune.
Und ich, ich konnte meinen Blick nicht mehr von Lars abwenden. Ständig lächelte ich ihn an. Flirtete ich etwa gerade? Aber auch er schien mich und Lea nett zu finden. Nachdem wir fertig mit Essen waren und uns gerade verabschieden wollten, lud uns Lars sogar überraschend spontan ein, ihn später noch im Jungenwohnheim besuchen zu kommen. Mein Herz machte einen Hüpfer vor Freude. Wir sagten sofort zu. Meine Mutter würde uns erst gegen 16:00 Uhr abholen. Es sprach also nichts dagegen.Lars wartete zur abgemachten Zeit unten im Foyer des Jungenwohnheimes, meldete bei den Heimpädagogen Mädchenbesuch an und führte Lea und mich dann zwei Stockwerke hoch, bis wir vor der Tür zu seinem Zimmer standen.
Als er die Tür öffnete und uns herein bat, blieb mir vor Staunen der Mund offen stehen. "Krass, du zeichnest ja!", rief ich überrascht aus. Überall an den Wänden hingen Zeichnungen: Schauspieler, Frauen, Männer, wirklich richtig gut gezeichnet! Wow, das war ein weiterer Pluspunkt, denn ich selbst liebte das Zeichnen und Malen. "Ja, aber mehr schlecht als Recht.", antwortete Lars verlegen. "Nein gar nicht. Die Bilder sehen echt super aus!", tat ich empört und fügte dann hinzu: "Ich zeichne übrigens auch voll gerne!" Auch so war sein Zimmer echt cool eingerichtet. Es hatte eine zweite Etage aus Holz, zu der eine Treppe hoch führte. Dort oben musste Lars wohl schlafen, denn ein Bett sah ich unten nirgendwo. Es gab zwei Fenster. Sie waren oben jeweils zu einem Bogen geformt und vermittelten irgendwie das Gefühl von Gemütlichkeit. Auch das Sofa, das mitten im Raum stand, lud zum hinflätzen und entspannen ein. Es gefiel mir hier.
Lea fragte Lars ein paar Dinge, aber ich bekam nicht genau mit, über was sie sprachen.
Ich war nämlich schon wieder in meinen Gedanken versunken. Dieser Lars war echt verdammt süß! Wenn ich hier auf's Internat gehen würde, könnte ich ihn fast jeden Tag sehen. Niemals zuvor war der Gedanke daran, in ein Internat zu ziehen, so verlockend gewesen, wie in diesem Moment. Vielleicht könnte aus Lars und mir ein Paar werden? Aber dann würde es ernst werden und wenn es ernst werden würde, müsste ich ihm die Sache mit meinem Opa erzählen... war ich dazu schon bereit? Ich wusste es nicht. Die Schmetterlinge in meinem Bauch fühlten sich gerade so schön an und dieses Gefühl wollte ich genießen und in Erinnerung behalten, wenn ich nachher nach Hause fahren würde.Die Zeit verging wie im Flug und schon war es Zeit Abschied zu nehmen. Abschied von dem Internat, den Leuten, Abschied von Lars. Dieser umarmte mich zum Schluss,als Lea und ich gerade gehen wollten. Oh, er roch so gut und seine Augen waren von Nahem noch schöner und anmutender als an dem Morgen in der Mensa. Während er mich umarmte, sagte er: "Vielleicht sehen wir uns ja wieder!"
Da war es um mich geschehen. Ich wollte hierher. Um jeden Preis. Alle Vorbehalte waren wie weg geblasen. Mein Entschluss stand fest: Wenn ich finanzielle Unterstützung durch das Bafög erhalten würde, wäre ich so bald wie möglich wieder hier bei Lars und den anderen netten Menschen, die ich in der einen Woche kennengelernt hatte.
DU LIEST GERADE
Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.
Aktuelle LiteraturDie Geschichte handelt von der jungen Frau Sarah, die in ihrer Kindheit jahrelang von ihrem Großvater sexuell missbraucht wurde. Als Kind begreift sie zunächst gar nicht, was mit ihr geschieht. Doch nach und nach realisiert sie, dass das, was ihr Gr...