Ein dumpfer Schrei der sonst so stummen Verzweiflung entdringt meiner Kehle und ich betrachte den vor wenigen Augenblicken noch so makellosen Spiegel. Nun durchziehen ihn feine Risse, die immer tiefschneidender werden und schließlich in einem großen Sprung zusammenfließen. Beinah erinnern sie mich an die Adern unter meiner Haut; ich betrachte meine noch immer geballte Faust, deutlich sind die blauen blutdurchflossenen Wege unter ihrer blassen Decke zu erkennen.
Ich hebe abwesend den Blick bis mich das was der Spiegel zeigt wieder gefangen nimmt. Ich mache einen Schritt darauf zu. Ich sehe mich, doch überall wo einer dieser feinen Risse verläuft, setzt sich mein Bild mit einer kaum merkbaren Verschiebung, einem kleinen Bruch, einer Unvolkommenheit, fort. Ich mache noch einen Schritt auf den Spiegel zu, sodass ich, wenn ich meinen Arm ausstrecke, meine Hand an das dünne, reflektierende Glas legen kann. Ich spüre wie klitzekleine Splitter sich in meine Haut bohren, dort wo ich den Spiegel berühre; ich beobachte wie erst meine Fingerspitzen zurückhaltend die meines Zwilling berühren, wie sich auch der Rest meiner Hand vorsichtig weiter anschmiegt und sie schließlich beinahe zu einer Hand verschmelzen, unmöglich zu sagen wo die eine beginnt und die andere endet. Ich wandere mit dem Blick aufwärts. Sie schaut mir direkt in die Augen und zum ersten Mal seit Langem erwidere ich diesen eisblauen Blick ohne Schmerz. Als ich sehe wie ihr eine Träne entweicht und langsam hinab läuft wende ich den Blick ab. Erst jetzt fällt mir, mit Schrecken auf, dass der große Sprung des Spiegels sich genau über ihrem Herzen befindet. Ich lege auch meine andere Hand an ihre; stehe nun genau vor ihr. Ich flüstere ihr zu, dass ich sie nicht allein lassen werde. Ich habe endlich Begriffen und diesmal werde ich den Mut haben. Ich entferne mich von ihr, Schritt für Schritt, bis ich mit dem Rücken an die kalte Wand stoße, doch ich lasse sie nicht aus den Augen; der Schmerz zermatert meine Stirn. Dann renne ich, auf sie zu, ich werde schneller, schließe die Augen, spüre einen heftigen Aufprall; Ich bekomme keine Luft mehr!Sie fängt mich auf. Natürlich fängt sie mich auf. Ihre makellosen Hände streicheln mir übers Haar und sie haucht immer und immer wieder meinen Namen. Ich blicke nur einmal nach hinten. Zurück bleiben nur einige Scherben, ein Tropfen Blut und ein kalter Windstoß der in die Dunkelheit entschwindet. Ich wende den Blick ab. Ich werde nicht mehr zurück müssen. Meine Augen finden ihre und mein Strahlen spiegelt sich in ihrer eisblauen Iris wieder.
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Gedankenkritzeln
Short StoryEine Sammlung verschiedener Gedankenkritzeleien. Metaphorik beladene Kurzgeschichten und Poesienahe Wortreihungen. Kuntergraue und Dunkelbunte durch und durch gekritzelte Geschichten.