Kapitel 21

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Der Mathe Unterricht ging schleppend voran. Teilnahmslos saß sie auf ihrem Stuhl und kritzelte Augen auf ihrem Block. Der Traum der letzten Nacht verfolgte sie.
   Vera hatte den ganzen Morgen damit verbracht die Augen ihrer Mitschüler zu überprüfen, aber kein Augenpaar sah denen, in ihrem Traum ähnlich.
   Sie hatte das Gefühl, dass der Traum real war und dieses Gefühl ging nicht weg. Die verschiedenen Augen waren ihr ins Gedächtnis gebrannt und wollten nicht verschwinden. Genauso wie die Frau, die ihr so bekannt vor kam. Sie wusste nur nicht mehr, woher.
   Lea, Luise, Aaron, Mia, Pia und auch Kevin waren verschwunden. In der ersten Pause hatte sie nach ihren Freundinnen gesucht, aber nirgends gefunden. Sie wollte mit jemanden über diesen Traum reden, aber niemand war da, nicht mal Nina war in ihrem Zimmer gewesen. Langsam machte sie sich Sorgen.
   Nervös klopfte sie mit dem Stift auf den Tisch und erntete böse Blicke. Verlegen legte sie den Stift nieder und sah auf ihr Blatt. Zwischen den Augen hatte sie unbewusst Herzen gemalt. Genervt riss sie das Blatt aus ihrem Block, knüllte es zusammen und legte es neben sich.
   Ihre Versuche sich auf den Unterrichtsstoff zu konzentrieren misslangen ihr. Der Lehrer faselte etwas von Vektoren und Ebenen, in welchen Beziehungen sie zueinander liegen könnten, doch sie verstand kein Wort. Es kam ihr vor, als würde der Lehrer chinesisch reden.
   Als es zum Ende der Stunde klingelte, packte sie ihre Sachen zusammen und ging aus dem Raum.
   Müde und schlapp setzte sie sich auf den Rasen, steckte sich ihre Kopfhörer in die Ohren, zog die Kapuze ihrer Sweatshirtjacke über den Kopf und legte sich auf den Rücken. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so kaputt und ausgelaugt gefühlt. Während Xavier Naidoo ''Wo willst du hin?" sang, tippte sie jemand an. Erschrocken setzte sie sich auf und sah Kevin vor sich.
   ''Sag mal gehst du mir aus dem Weg? Ich hab dich seit gestern nicht mehr gesehen'' sagte er. Kevin setzte sich und musterte sie. ''Du sieht nicht gut aus, alles ok bei dir?'' fragte er besorgt. ''Ja'' seufzte sie ''Wenn du mich jetzt entschuldigst.'' Ruckartig setzte sie sich in Bewegung. Sie wollte gerade in das Schulgebäude verschwinden, als sie Luises Lockenkopf im Schatten einer Buche sah. Zielgerichtet ging sie auf Luise zu, aber als sie an der Stelle war, war sie fort. Irritiert sah sie sich um. Werd ich jetzt etwa verrückt?!

Vera war die Letzte in der Mädchenumkleidekabine, als Nina, Lea und Luise herein spaziert kamen. ''Hallöchen'' trällerte Lea. ''Sagt mal, wo wart ihr?'' vorwurfsvoll sah sie von Einem zum Anderen. Unschuldig zuckten sie die Achseln ''haben geschwänzt.'' Ungläubig sah sie Lea an und gerade als Vera etwas erwidern wollte, zog Nina Lea mit sich. Sie verschwanden in der Sporthalle.
   Luise warf ihre Sporttasche auf eine Bank und packte ihre Sportkleidung aus. ''Sagst du mir, wo ihr wart?'' fragte Vera wieder. ''In der Stadt, wir haben geschwänzt, Vera. Macht das nicht jeder mal?'' Luise zog sich um, lief zur Tür und wartete auf Vera. 
   Geschwänzt. Na klar... ''Weißt du, wo Aaron ist?'' fragte Vera zögerlich. ''Er ist in der Sporthalle'' sie deutete hinter sich.
   Gemeinsam mit Luise betrat sie die Sporthalle. Es war ein großer rechteckiger Raum. An den Wänden waren Kletterwände, Seile und Basketballkörbe angebracht.
   Aaron stand im Schweigekreis, wie in der Grundschule. Er trug eine lockere Sporthose mit Bündchen an den Knöcheln. Ein weißes, enganliegendes T-Shirt betonte jeden Muskel. Bei seinem Anblick blieb ihr der Atem weg. Selbst in Sportkleidung sah er atemberaubend aus. Vera bereute es, dass sie nicht die Figurbetonte Sportkleidung eingepackt hatte. Stattdessen hatte sie eine weite, alte Jogginghose und ein pinkes Shirt, mit der Aufschrift Be a Pro, an.
   ''Wir fangen heute mit dem Thema Tanzen an, wurde dir das schon gesagt?'' fragte Luise mit einem riesigen Grinsen im Gesicht. ''Nein'' murmelte Vera. Wenn sie eins nicht konnte, dann war es Tanzen. Ihre Versuche führten immer dazu, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte oder anderen auf die Füße trat.
   Gespielt lässig lief sie in den Schweigekreis, am liebsten wäre sie schreiend aus der Halle gerannt, aber das würde nichts bringen. Sie musste da durch.
   ''Guten Tag'' begrüßte die Lehrerin ihre Schüler. Sie war groß, durchtrainiert und für
ihr Alter ziemlich hübsch. Vera schätzte sie Anfang 50. ''Für alle Neuen in dem Kurs, ich bin Frau Berger. Willkommen. Vielleicht habt ihr schon gehört, welches Thema wir zur Zeit haben. Falls nicht, es ist Tanzen'' sagte sie lächelnd und lief voller Elan aus dem Kreis. ''Wir beginnen mit Paartanz, dafür werde ich euch zu zweit einteilen'' erklärte sie. ''Weiß jemand etwas über Paartänze?'' fragte sie. Vier Mädchen hoben die Hände, darunter Luise. Aufgeregt wippte sie hin und her.   ''Susanne?'' Frau Berger deutete auf das Mädchen, mit einem hohen Dutt und kurzen Sportsachen. ''Dazu gehört zum Beispiel der Walzer, der Mambo, der Fox, der...'' Frau Berger unterbrach das Mädchen. ''Das reicht'' sichtlich Stolz auf ihre Schülerin, wurde ihr Lächeln breiter. ''Ihr werdet eine eigene Choreographie erarbeiten, die ich bis zu den Ferien benoten werde. Hierbei ist die Technik, Korrektheit und Disziplin jedes Einzelnen sehr wichtig.''
   ''Stell dir mal vor, du und Aaron'' kichert Luise neben ihr. Oh nein, dachte sie.
   Frau Berger hatte angefangen die Paare zusammen zu stellen. Luise und Vera standen nervös nebeneinander, wobei Luise eher aufgeregt schien.
   ''Vera und Kevin'' beschloss ihre Lehrerin. Ohne nachzudenken trat Vera nach vorne. ''Entschuldigung, aber ich kann nicht mit Kevin tanzen'' sprudelte es aus ihr heraus. Skeptisch hob Frau Berger eine Augenbraue ''und wieso nicht?'' Hilfesuchend sah sie zu Luise rüber, die sofort verstand. ''Frau Berger, es geht wirklich nicht. Es ist zu kompliziert um es zu erklären, aber tun sie Vera den Gefallen'' sagte Luise mit fester Stimme. ''Ok, dann halt Aaron. Keine weitere Diskussion.'' Frau Berger wand ihr den Rücken zu und ließ sie stehen.
   Erstarrt sah Vera ihr hinterher. Luise trat neben sie ''geil'' murmelte sie. ''Luise, das ist nicht witzig! Das ist noch schlimmer als Kevin!'' Veras Stimme begann hysterisch zu quietschen. ''Mach dir nicht ins Hemd, Aaron beißt nicht'' fröhlich ging Luise zu ihrem Tanzpartner und ließ Vera einfach stehen. Ungläubig schüttelte Vera den Kopf.
   Jemand tippte ihr von hinten auf die Schulter, sie drehte sich um und sah Kevin.  Schwer atmend stand sie angespannt vor ihm. ''Kannst du mir mal verraten, was zum Teufel mit dir los ist?'' fragte er mit gesengter, scharfer Stimme. ''Kevin, lass mich in Ruhe. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig'' flüsterte sie zurück. ''Das weiß ich, trotzdem will ich wissen, warum du mich behandelst, als wäre ich Abschaum'' in seiner Stimme konnte sie eine gewisse Spur von Traurigkeit hören.
   ''Vielleicht, weil du es bist'' stellte jemand hinter ihr fest. Es war Aarons Stimme, dass wusste sie genau, denn das Prickeln auf ihrer Haut begann. Bei seinem Anblick begann ihr Herz wilder zu pochen. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er hinter ihr und ließ Kevin nicht aus den Augen. ''Lass sie in Ruhe'' sagte er mit drohender Stimme. Abwehrend hob Kevin die Arme ''sie gehört dir.'' Mit diesen Worten ging er zu seiner Partnerin. Wütend starrte sie ihm hinterher. Ich bin kein Gegenstand, der jemanden gehört, hätte sie ihm am liebsten nach geschrien, aber beließ es bei einem wütenden Schnauben.
   ''Alles ok?'' fragte Aaron mit sanfter Stimme. Tief atmend, um die Ruhe zu bewahren, drehte sie sich zu ihm. All die Feindlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden und auch seine Haltung war entspannter. ''Ja, ich glaub schon... Sag mal, hat er mich grade wirklich als Objekt betrachtet?'' fragte sie ungläubig. ''Ich glaube nicht, dass er es so gemeint hat'' Aaron nahm Kevin in Schutz, was Veras Misstrauen weckte. ''Wieso verteidigst du ihn jetzt?'' ihre Stimme klang zickiger, als sie es beabsichtigt hatte. ''Tu ich nicht.'' Genervt ließ sie ihren Blick schweifen.
   ''Fangen wir dann jetzt an, oder sollen wir hier Wurzeln schlagen?'' fragte sie zickig. Amüsiert trat Aaron vor ''was hast du dir denn vorgestellt?'' fragte er mit tiefer betörender Stimme, sodass man es auch anders verstehen könnte. Sie wich nervös zurück. ''Ähm...ich weiß nicht'' stotterte sie. Immer noch amüsiert sagte er: ''Dann schlagen wir halt Wurzeln.'' Unruhig fuhr sie sich durchs Haar und ruinierte ihren Pferdeschwanz. Na toll... Kann er denn nicht tanzen?
   ''Ich kann nicht tanzen'' flüsterte sie. Das spöttische Grinsen verschwand aus Aarons Gesicht ''dann bring ich es dir bei.'' Entschlossen verringerte er den Abstand zwischen ihnen, nahm ihre Hand und legte sie in seine. Seine Berührung hinterließ einen kalten Schauer. ''Leg die andere Hand auf meine Schulter'' Vera befolgte seine Anweisung.  Seine noch freie Hand legte er auf ihre Taille. ''Aaron, ich kann das wirklich ni..'' er unterbrach sie. ''Rechts nach hinten.'' Wieder befolgte sie seine Anweisung. ''Links zur Seite.'' In ihr jubelte es: Wir leben noch. Es waren zwar erst zwei Schritte, aber trotzdem breitete sich ein Glücksgefühl in ihr aus. Sie befolgte weiterhin seine Anweisung, selbst eine Drehung schaffte sie.
   ''Und was tanzen wir jetzt gerade?'' fragte sie verlegen. ''Das nennt sich der Langsame Walzer'' erklärte er. ''Und so eine Katastrophe bist du jetzt auch nicht'' witzelte Aaron. ''Haha. Das ich nicht Lache'' murmelte sie in seine Schulter. Er unterdrückte ein Lachen.  
   ''Wo warst du?'' fragte sie beiläufig und Aaron wirbelte sie herum und drückte sie wieder an sich. Überrascht piepste sie. ''Hab die ersten beiden Stunden verschlafen und dann hatte ich keine Lust auf Mathe'' sagte er aufrichtig. ''Wieso hast du verschlafen? Wecker nicht gestellt?'' Er grinste ''nein, bin erst spät in mein Zimmer.''  Oh mein Gott! Er war also wirklich die Nacht da gewesen und es hatte wirklich diesen Kuss gegeben.
   Er verlangsamte und blieb dann stehen. ''Danke für den Tanz, Mylady'' mit einer übertriebenen Verbeugung und einem Handkuss stand er vor ihr. Er klang, als würde er nicht aus diese Epoche kommen, auch wenn sie es besser wusste.
   Die Klingel ließ sie erschrocken zusammenzucken.

Vom Engel geküsst Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt