Nachtwanderung

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Sie lief jetzt schon eine ganze Weile durch die Stadt. Die Kälte, welche in dieser Nacht herrschte, durchdrang ihren Körper. Aber das störte sie nicht. Sie war gerne hier. Zumindest redete sie sich das seit Stunden selbst ein. Immer noch besser als zu Hause zu sein, dachte sie. Nicht, dass in ihrer Wohnung etwas wirklich Gefährliches wäre, wovor sie Angst haben müsste. Dort war eigentlich nur die Stille, aber genau die war es ja, die sie nicht ertragen konnte. Sie wusste nicht warum, sie wusste nur, dass sie jetzt schon seit Jahren vor dieser unheimlichen Stille davonlief. Auch wenn es zugegebener Maßen nicht immer die schönste Beschäftigung war, die ganze Nacht durch die Gegend zu laufen. Aber so ist es nun mal, sie hat sich daran gewöhnt. Das hatte den Vorteil, dass sie jede Gasse, jeden Winkel und vor allem jeden Menschen dieser Stadt, der außer ihr noch des nachts draußen rumlief kannte. Jedenfalls dachte sie das bis zu jener Nacht. Es war kurz vor 3 Uhr morgens und sie lief an einem Park vorbei, der ziemlich weit von ihrer Wohnung entfernt lag. Der Park war, wie in den meisten Nächten, menschenleer. Sie bog in eine kleine Seitenstraße ab und blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihr, auf dem durch eine Straßenlaterne schwach beleuchteten Bürgersteig, zog sich eine Spur roter Flüssigkeit entlang. Blut war das erste und einzige woran sie denken konnte. Es dauerte eine Weile, bis sie ihren Blick vom Boden lösen konnte. Doch kurz nachdem sie wieder nach oben schaute, wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Etwa 500 Meter entfernt, auf ihrer Straßenseite sah sie einen Mann. Er muss ungefähr in ihrem Alter gewesen sein, vielleicht ein paar Jahre älter. Doch das war auch das einzige, was sie annähernd mit ihm gemeinsam hatte. Er war lang und dünn, hatte weit aufgerissene Augen. Sein Mund war zu einem schmerzhaft breiten Grinsen verzogen. Obwohl ihr der Schock immer noch in den Gliedern lag, öffnete sie mehrmals den Mund, in der Hoffnung irgendetwas sagen zu können. Doch war ein leichtes „Was..." das Einzige, was auf ihr herauskam. Sie hörte ihre eigene Angst in ihrer Stimme, was ihr nur noch mehr Angst machte. Doch der Mann reagierte nicht darauf. Nachdem sie sich eine Zeit lang in die Augen gestarrt haben, drehte er sich langsam um und lief davon. Einfach so. Irgendetwas in ihr hatte den Drang ihm nachzulaufen, immerhin könnte er etwas mit der Blutspur zu tun haben. Und obwohl sie sich insgeheim dagegen währte, siegte dieser Drang schließlich und sie begann zu laufen. Nach ein paar Minuten, die ihr allerdings wie Stunden vorkamen, bog der Mann in eine kleine Gasse ab. Völlig außer Atem und immer noch fertig mit den Nerven folgte sie ihm. Nur um festzustellen, dass er weg war. Während sie der Gasse folgte, spähte sie ab und an über ihre Schulter, immer damit rechnend sein dummes Grinsen sehen. Doch er war nie zu sehen. Am Ende der Gasse war so etwas wie ein Innenhof eines Hauses. Die Blutspur, die sich weiter hin über den Weg erstreckte, endete in einer kleinen Garage. Das war auch die einzige Tür in diesem Hof. Sonst waren nur graue Wände, nicht einmal Fenster. Auch wenn sie vermutete, dass das Tor der Garage verschlossen ist, versuchte sie es zu öffnen. 

Tatsächlich schwang das Tor mit unerwarteter Leichtigkeit auf. Der Anblick, der sich ihr jetzt bot, war nicht gerade schön. Eine riesige Blutlache hatte sich auf dem rauen Boden gesammelt. Von wem oder was auch immer dieses Blut stammt, es war sicher nicht mehr am Leben. Doch das Blut war nicht hauptsächlich das, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war der Mann, der ihr direkt gegenüberstand und eine Waffe auf sie richtete.

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