Einziges Kapitel

2 2 0
                                    

Der Junge zieht sich verfroren seine alte, schon sehr abgenutzte Jacke weiter zu, bis der Reißverschluss ganz geschlossen ist. Nur ein kurzer Kragen schützt seinen Hals vor dem kalten Herbstwind, der erbarmungslos durch die Straßen pfeift und braune Blätter aus dem Stadtpark vor sich her treibt. Die Hände hat er in die Ärmel eingezogen und zu Fäusten geballt, um seine Fingerspitzen aufzuwärmen. Auf seinem Kopf sitzt eine etwas zu dünne Mütze, unter der braune Strähnen hervorragen. In seiner ausgebeulten Jackentasche steckt ein Buch.
Er hält seinen rechten Arm schützend darüber, damit niemand auf die Idee kommt, es zu stehlen und damit es nicht herausfällt.
Denn das Buch ist für den Jungen sehr wertvoll.
So wertvoll, wie einem Menschen etwas nur überhaupt sein könnte.

Das Buch ist sein Leben.
Mit ruhigen, freundlichen Augen schaut er sich in der von lautem Leben erfüllten Fußgängerzone um. Etliche Menschen laufen an ihm vorbei, viele werfen ihm einen kurzen Blick zu, manchmal neugierig, manchmal mitleidig und manchmal vollkommen ausdruckslos. Einfach nur ein Blick, mit dem man einen Fremden mustert.

Langsam setzt der Junge sich in Bewegung, läuft an den vielen Geschäften vorbei, die hell erleuchtet uns voller Kunden sind. Menschen, die ihr Geld für neue Sachen ausgeben, für erste frühe Weihnachtsgeschenke oder sich nur umschauen.
Er lächelt sanft, während er jeden, an dem er vorbeigeht, kurz ansieht und einschätzt. Er sucht nach bestimmten Personen, nach den richtigen.

Irgendwann entschließt er sich, eine einzelne junge Frau, die sich gerade mit dem Handy in der Hand auf eine Bank setzt, anzusprechen.
Sie starrt auf ihr Display, tippt wild irgendwelche Nachrichten, streicht sich kurz ihre langen schwarzen Haare nach hinten und tippt dann weiter. Auf dem Schoß hat sie eine ungemein große Handtasche, eine solche, wie viele sie zurzeit tragen.
Scheint gerade in der Mode zu sein.

"Entschuldigung?", fängt er mit warmer, freundlicher Stimme an. Sie blickt verwundert auf, wirft nochmal einen kurzen Blick auf das Handy in ihren Händen und macht dieses dann aus. "Entschuldigung, ich möchte nicht stören, ich habe nur eine kleine Frage. Darf ich mich setzen?"

Sie nickt perplex. Während er sich neben ihr niederlässt, findet sie ihre Sprache wieder. "Was ist denn?"
Er lächelt. "Ich wollte Ihnen nur etwas anbieten. Es geht um einen kleinen Gefallen. Und zwar würde ich Ihnen gerne etwas vorlesen aus meinem Buch und wenn es Ihnen gefällt, könnten sie mir dann ein klein wenig Geld schenken?"

Erstaunt hebt sie beide Augenbrauen. "Ähm... Naja, hier auf offener Straße? Also, eigentlich wollte ich dann bald heimfahren. Ich hab noch was vor."
"Sehen Sie, es ist jetzt zwanzig nach zwei Uhr nachmittags. Sie können mir zehn Minuten lang zuhören und danach werden sie immernoch genug Zeit haben. Sie dürfen auch vorher gehen, einfach aufstehen, wenn Sie keine Geduld mehr haben. Ich zwinge Sie nicht."

Halb überzeugt nickt sie schließlich. Der Gedanke, auf offener Straße von einem wildfremden Jungen etwas vorgelesen zu bekommen, scheint ihr noch sehr befremdlich und sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Andererseits interessiert sie, was dahinter steckt.

"Dankeschön!", strahlte der Junge mit einem ehrlichen Lächeln. "Ich gebe mein Bestes. Das Buch wird Ihnen gefallen, es ist Winnetou. Ach übrigens, ich heiße Noir."

Sie schaut den seltsamen Jungen mit wachsender Neugier an. "Wie heißt du? Kannst du das nochmal sagen?"
Er lacht verständnisvoll und wiederholt den ungewöhnlichen Name noch einmal deutlich: "Noir. Ich heiße Noir. "

"Noir?", spricht sie das Wort einmal selbst aus.
"Genau."
"Ist das französisch?"
"Das kann sein, ich weiß es nicht. Jemand hat sich diesen Namen für mich ausgedacht."
"Deine Eltern?"
"Nein."
"Wer dann?"
"...Ein Bekannter."
"Aha."
Er lächelt noch immer, geheimnisvoll diesmal. Sein Blick verrät, dass er die genaue Geschichte lieber für sich behält.

C'est NoirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt