Kapitel 21:
„Ein gegebenes Versprechen, ist eine unbezahlte Schuld."- William Shakespeare
Ein etwas höher gewachsener, schlanker Mann mit pechschwarzen, ordentlich nach hinten gekämmten Haaren und glattrasiertem Kinn. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte er immer Poloshirts oder Hemden getragen, ob während der Arbeit oder zuhause war dabei egal, ich hatte ein exaktes Abbild seiner beigen Lieblingshose und den pingeligst gesäuberten, glänzend schwarzen Lackschuhen, die ihm heilig gewesen waren, im Kopf.
So sah ich meinen Vater vor mir, wenn ich in meinem Kopf nach einem Bild von ihm suchte. Die Farbe seiner Augen war wie der Klang seiner Stimme in meinem Gedächtnis verblasst und nicht mehr präsent, wie noch wenige Jahre zuvor. Ich hatte sie vergessen, einfach so, als wäre es nicht von Bedeutung, aber das war es, das war er, das ist er.
Diesem Mann, meinem Vater, verdankte ich so viel, eigentlich verdankte ich ihm alles, er hatte mich entscheidend geprägt. Allerdings hatte er mich nicht zu dem Menschen gemacht, der ich heute war. Mein Vater gab mir viel mit, was ich heute noch beherzigte und er war auch für meine Prioritäten, Normen und Werte verantwortlich, dass was einen Menschen eigentlich ausmachen sollte, doch die Verschlossenheit und die Unfähigkeit jemandem mein Vertrauen zu schenken und die wachsenden Zweifel an mir selbst wurden von einem anderen gesät und damit meinte ich nicht meine Mutter. Die Frau, die mir einen Eisbeutel in die Hand gedrückt hatte, damit ich meine aufgeplatzten Lippen kühlen konnte und mir jetzt mit einem feuchten Waschlappen das Blut aus dem Gesicht tupfte.
Sandro war das ganze Gegenteil meines Vaters, er war ungeduldig, grob und dumm. Noch heute fragte ich mich, wie meine Mutter ihn lieben konnte. Kein einziges Mal hatte mein Vater seine Hand gegen mich erhoben, Sandro hatte es heute ausnahmsweise einmal nicht geschafft mir ein blaues Auge zu verpassen. Nur meine Nase, meine Lippen und meine linke Schulter hatten etwas abbekommen. Bereits nach dem ersten Schlag war ich auf dem Boden gelandet und er hatte mir einen schmerzhaften Tritt verpasst.
Erschrocken zog ich die Luft ein, als meine Mutter fachmännisch mein Nasenbein abtastete, um einen möglichen Bruch auszuschließen. Lediglich die Tatsache, dass sie Krankenschwester war, konnte ich ihr noch positiv abgewinnen und dass sie wie gerade eben einmal das Wunder vollbrachte, meinen Stiefvater zu beruhigen und ihn aus dem Haus zu bugsieren. Das schlechte Gewissen wegen der Undankbarkeit und dem Hass, den ich ihr entgegenbrachte, knabberte an mir, aber ich konnte einfach nicht anders. Sie hatte mich schon so oft verletzt und von sich gestoßen, dass ich nicht mehr die Kraft aufbrachte, einen Schritt auf meine Mutter zuzugehen. „Vorsichtiger geht's wohl nicht.", fauchte ich sie an, als sie erneut mit ihren Fingern an meine Nase drückte. Für einen kleinen Augenblick trafen sich unsere Blicke, bevor sie zurückzuckte, als hätte sie sich verbrannt, als sie mir, ihrer Tochter, zum ersten Mal seit vielen Wochen direkt in die Augen blickte. Was hatte sie gesehen, Schmerz, Wut, Hass, Enttäuschung? Wahrscheinlich alles nur nicht das Verständnis, dass ich verrückterweise immer noch aufbringen konnte. Sie trug keine Schuld für all das hier, genauso wenig wie Sandro oder ich, niemand hatte Schuld daran, dass Sandro seinen Job verloren hatte und nicht damit klarkam, dass meine Mutter und ich ihn finanzierten, er schämte sich sicher nur und war wütend auf sich selbst, so wütend, dass er irgendwann zur Flasche gegriffen hatte, womit die ganze Sache eskaliert war. Wenn jemand schuld war, dann die Gesellschaft, die einen von Tag zu Tag mehr mit dem Gefühl versagt zu haben und nicht zu genügen erdrückte. Wir waren keine Familie, die sich gegenseitig bei ihren Problemen unterstütze, wir waren eine Wohngemeinschaft und lebten nur nebeneinander her, bis der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen brachte und in Sandro die Wut über sein vermeintliches Versagen überkochte. Er ließ seinen Zorn an mir und meiner Mutter aus, ich wiederum meinen an meiner Mutter, aber an wem ließ sie ihren Zorn aus?
„Müsstest du nicht noch in der Schule sein?", fragte meine Mutter mich zu meiner großen Verwunderung. Einen Moment zog ich tatsächlich in Erwägung, ihr den Grund zu nennen, weshalb ich schon wieder nicht bis zur letzten Stunde in der Schule geblieben war. „Seit wann interessiert dich das?", ich lachte, ein bitteres, höhnisches Lachen, ein Lachen, das sie verletzte. Eines, das sie verletzten sollte.
Im Moment war in mir alles tot, zumindest fühlte es sich so an, leblos und kalt, ich verspürte nicht einmal den Drang, mich bei ihr für meine gemeinen Worte zu entschuldigen. Ich war grausam, grausam zu meiner eigenen Mutter, die es noch schlimmer getroffen hatte als mich. Sie hatte niemanden und ich hatte im Gegensatz zu ihr so viel. Vielleicht würde unser Verhältnis besser werden, wenn ich auszog, vielleicht würde dann alles besser werden.
Ich hatte mir geschworen sie nicht allein zu lassen, nicht nach dem Tod meines Vater und erst recht nicht mit Sandro bis ich achtzehn bin, früher hatte ich gehofft, dass dann alles gut war. Damals musste ich schrecklich naiv gewesen sein. Mittlerweile keimte in mir das Gefühl, für sie alles nur noch schlimmer zu machen.
Tränen stiegen mir in die Augen, meine Gefühle brachen aus der Schublade, in die ich sie gesperrt hatte. Wann hatte ich angefangen meine Mutter so zu behandeln? Wie konnte ich meine eigene Mutter, die mich liebte, derart niederträchtig behandeln? Ich würde etwas ändern, ich würde jetzt anfangen es besser zu machen und ihr nicht mehr absichtlich aus dem Weg gehen, ich würde wieder anfangen sie als meine Mama zu sehen.
Ein Schluchzen drang aus meiner Kehle, die Tränen strömten nun über meine Wangen. Nach einer Umarmung bettelnd streckte ich die Arme aus. „Mama.", flüsterte ich leise mit erstickender Stimme und schluchzte wieder. Still hoffte ich, dass sie meinem Wunsch nach einer Umarmung nach kam.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis ich begriff, dass sie das Badezimmer schon längst verlassen hatte. Versagt. Kläglich versagt. Allein.
Vielen lieben Dank an alle Leser :3
DU LIEST GERADE
If you're going through hell, keep going (LeFloid FF)
Fanfiction(LeFloid x OC) Ein geschickt gesponnenes Netz aus Lügen, eine gehörige Portion Sarkasmus, sowie eine Prise Selbstironie und eine effektive Verdrängungstaktik mehr braucht Mel nicht, das selbsternannte menschliche Komplettfiasko, um sich still und l...